Ich habe noch nicht zu Ende getanzt
/Nadia/ Ich habe noch nicht zu Ende getanzt. Da sind noch viele Figuren in die Luft zu schneiden, mit rudernden Armen und ängstlich verhaltenem Atem.
Ich habe so oft an Geländern hoher Brücken gelehnt und stumpf hinabgesehen und mir den Flug ohne Wiederkehr ausgemalt, den Absprung ins Leere. Ich habe mir Kinderlieder vorgesungen, um mir Mut zu machen und bin doch nicht gesprungen. Es gab immer einen Grund, es beim Hinabschauen zu lassen und den Sprung zu verschieben auf eine andere Angstminute. Niemand, sagte ich mir, weiß, wie schön ich singen kann. Niemand weiß, welch kraftvolle Musik in meinen Adern pulst und gehört werden will. Ich bin ein Orchester, das Kinderlieder in Symphonien verwandelt. Das habe ich mir auch vorgesagt an den Brückengeländern.
Mein Herz ist immer und immer wieder gesprungen und kam doch nie unten an. Es ist nie auf den Asphalt geprallt, nie in den Flüssen versunken, um den Fischen ein Haus zu sein.
Der Sprung und die Kinderlieder und die Erinnerung an die Brückengeländer – das ist ein Purpurband, an dem ich mich immer zurückhangeln kann durch alle meine Tage bis hin zu meinem Kinderzimmer, bis hin zu den Kissentürmen, auf denen Prinzessinnen stehen, die ihre Mädchenaugen herausreißen und in die Tiefe werfen, damit sie im Schloßgraben langsam vermodern.
Und jetzt kommst du und willst mir weismachen, daß sie all die Jahre überdauert haben und streng aus dem Schlamm in die Höhe starren und mir einen fesselnden Blick entgegenschleudern und mich hinabziehen wollen. Du kommst und sagst, es ist Zeit für den Sprung. Jetzt soll es nicht mehr hinausschiebbar sein, die Flügel gespreizt, alle Muskeln gespannt. Jetzt sei der Morgen gekommen.
Aber ich muß noch viele Stierkämpfe zeichnen und noch viele Kinderlieder als Totenmessen singen im heißen Sand der Arena. Meine Füße sind des Tanzes lang noch nicht müde. Ich weiß es jetzt: Du kannst mich nicht zwingen, den Sprung zu wagen. Ganz gleich, wie dicht am Abgrund ich tanzte, um den Absturz bin ich immer herumgetanzt und habe nur kokettiert mit der Tiefe.
Ich halte noch fest an dem Purpurband. Ich springe noch nicht. Du kannst das gern Blut nennen, was mir vom Mundwinkel tropft. Es schmeckt bitter wie Liebe und macht mich trunken, denn ich lebe. Ich lebe dort oben auf den Prinzessinnenzinnen und schleudere den modernden Augen nur ein Lachen entgegen. Ich werde dir zeigen, wie lebendig ich bin und wie weit der Morgen noch entfernt ist und wie ich mich festtanzen kann in der Wand, um noch bleiben zu können.
Wenn du längst schon fort bist mit allen Koffern und Träumen, werde ich immer noch tanzen. Und das Boot legt ab ohne mich und bringt dich allein fort über den See.
Wenn du gehen willst, geh. Doch ich bin nicht bei dir. Ich bleibe.
Am 23. April 2007 um 19:52 Uhr
Diese Passage zu lesen, war mir ein Grosses. Da konnte ich jedes Wort auf der Zunge tanzen spüren.
Am 23. April 2007 um 20:43 Uhr
Das liegt daran, dass Du diese Passage für die Podcast-Aufnahme so oft lesen musstest… *grin* Das „Making Of“ mit unseren Verlesern haben wir den Hörern ja nun doch vorenthalten. Schade eigentlich, wenn ich nur dran denke, wie lange ich für die Artikulation von „allumimentisch“ gebraucht habe…