Gleisgänger, Streckenläufer
/Richard/ Gleisgänger, Streckenläufer… Kennst du all die Namen, die wir uns gaben?
Ich setze meinen Fuß von einer Schwelle zur nächsten. Sie sind aus Holz. Die wechselnden Wetter haben sie verwundet. Tiefe Risse durchziehen sie längs. Müdigkeit durchzieht die Holzbalken, auf denen das Gleis ruht, das ich abgehe, gestern abging, morgen abgehen werde. Meine Geburt war der erste Schritt im Gleis. Von da an ging ich immer von Schwelle zu Schwelle, kleine Schritte zwischen den Schienen.
Das ist mein Beruf, sage ich manchmal. Doch nur aus Not spreche ich so, denn lange schon ist mir aufgefallen, daß dieses Gleis über und über mit Rost bedeckt ist, der an ihm nagt. Ich hasse den Rost. Er zielt auf mich mit seiner Zerstörung. Er will mir meine Arbeit nehmen.
Ich setze meinen Fuß von einer Schwelle zur nächsten und schlage mit dem großen, schweren Hammer gegen die Schiene. Ich höre am Klang, ob die Schrauben an den Zwingen, die das Gleis halten, noch festsitzen oder nachgezogen werden müssen. Und nachgezogen werden müssen sie, wenn sie sich gelockert haben. Ich darf diese Lösung nicht zulassen, denn es muß eine Ordnung geben. Dabei sehe ich, wie der Rost mehr und mehr an den Schienen nagt. Und es ist der Rost, der mir immer wieder sagt, was ich ohnehin längst weiß: Seit Jahren ist hier kein Zug mehr gefahren.
Ich habe aber noch eine andere Entdeckung gemacht – daß es ein Rundkurs ist, ein Kreis, dieses Gleis, das ich abgehe. Darauf bin ich nur durch Zufall gekommen. Schuld ist dieser Baum an der Strecke, eine große Linde mit weit ausladender Krone. Jedesmal, wenn ich an ihr vorübergehe, denke ich: wieder ein Tag. Diese Linde ist mein einziger Anhaltspunkt, was die Zeit angeht. Es gibt keine Helligkeitsunterschiede für mich, daß ich sagen könnte: Es ist Tag, oder sagen könnte: Es ist Nacht. So habe ich bestimmt, daß ein Tag bedeutet, einmal den Baum gesehen, einmal an ihm vorübergekommen zu sein. Wenn er, nachdem er seine Blätter abgeworfen hat, nach einiger Zeit wieder Grün zu treiben beginnt, weiß ich, daß ein Jahr vergangen ist. Ein Jahr hat sechshundertsechsundsechzig Tage. Ich habe das so festgelegt für mich; und es muß gut sein so und richtig, denn niemand hat es mir verboten oder mich im nachhinein bestraft.
Dennoch glaube ich inzwischen, dieser Baum an der Strecke muß ein Versehen sein. Und ich denke manchmal, daß es ihn nicht geben dürfte. Es ist gefährlich, wenn der Mensch eine Ahnung von Zeit bekommt. Das ist nicht gut für die Ordnung.
Ich zum Beispiel bin irgendwann dahintergekommen, daß dieses Gleis, das ich abgehe, kein Ende und keinen Beginn hat, daß es ein Rundkurs ist, den seit Ewigkeiten, jedenfalls solange ich lebe, kein Zug befahren hat. Aber es ist eine Berufung, sagte ich mir und ging weiter von Schwelle zu Schwelle und schlug mit dem Hammer gegen die Schienen. Und ich zog weiter ab und an eine Schraube, die sich gelockert hatte, wieder fest. Denn es muß eine Ordnung geben.
Nur gegen den Rost kann ich nichts, außer: ihn zu hassen. Er zerfrißt mir mein Gleis. Zum Glück kommt er nur sehr langsam voran, und es geht mir gut, wenn ich auch manchmal Beklemmungen habe zwischen den Schienen und bei meinen kleinen Schritten von Schwelle zu Schwelle.
Ich klage nicht. Ich habe nie geklagt, weil ich mir Wehmut immer verbiete. Ich bin stark. Ich kann das. Ich habe es nicht nötig zu leiden. Ich mache eine Arbeit und sage mir, daß sie sehr wichtig ist. Ich sage das trotz des Rostes, sage das, obwohl ich weiß, daß kein Zug diesen Rundkurs je abfährt.
Es gibt ja den Baum. Es gibt ihn und also etwas, an das ich mich halten und das ich lieben kann, obwohl es mich manchmal schmerzt, wenn ich sehe, wie er sich verwandelt, ganz anders als ich. Ich liebe ihn trotzdem und gehe mein Gleis ab, und obwohl es den Rost gibt, geht es mir gut. Es ist eine Ordnung in meiner kleinen Welt. Ich halte diese Welt in Ordnung; ich habe es in der Hand. Ich habe die Ordnung in der Hand. Sie gehört mir, denn ich bin der Herrscher. Ich fürchte mich nicht.
Wie lange ich schon so gehe. Vielleicht bin ich sogar unsterblich. Was kümmert denn mich der Baum, diese jämmerliche Linde, an der ich einmal am Tag vorübergehe? Ich habe nichts zu tun mit ihr, dieser Lügnerin mit dem ständig wechselnden Gesicht. Ich bin immer gleich, und so muß es sein. Sie nämlich lügt. Sie ist die Ketzerin. Man sollte diese Linde nicht dulden. Sie ist ein Schandfleck!
Schritt, Schritt, Schwelle, Schwelle – zwischen den Schienen mein wundervolles Leben. Aber was ist das? Ein Rattern, ein Kreischen. Wer wagt es?
Der Baum ist schuld, diese ketzerische Linde, da bin ich ganz sicher. Aber sie steht ja ganz reglos am Gleis, wie unbeteiligt. Doch das Geräusch kommt immer näher. Ich habe keine Angst. Ich habe mich noch nie gefürchtet. Schritt, Schritt, Schwelle, Schwelle. Ich strauchele. Das ist mir noch nie passiert. Ich drehe mich um, sehe zurück. Das habe ich noch nie getan.
Da ist ein Zug, und er kommt immer näher. Ich beschleunige meinen Schritt. Aber er kommt immer näher, rasend. Ich beginne zu laufen. Aber er kommt immer näher. Ich stürze wild vorwärts, aber näher, näher kommt er, kommt immer näher.
Warum hilft mir niemand? Warum hält das Gleis? Warum trägt es diesen Zug, der mich umbringen will?
Ich stürze, ich kann nicht mehr aufstehen, der Zug ist da, hat mich erreicht, nein nein, trennt mir die Hand vom Arm, den Kopf vom Rumpf, nein nein, fährt der Zug, nein nein, zerfetzt, nein nein. Zerfetzt. Zerfetzt. Zerfetzt. Zerfetzt.