Gestern konnte ich lange nicht einschlafen
/Daniel/ Gestern konnte ich lange nicht einschlafen. Ich lag bis zum Morgen wach. Diese Schlaflosigkeit kennst du, dachte ich noch. Jetzt hat sie dich eingeholt. Jetzt singt Großvater dir ein Schlaflied, das finstere Träume macht: „Die Fahne hoch…“ Und hebt die Hand zum Gruß.
Aber ich sagte mir, daß es nur die Nachbarn sind. Sie geben eine Party, und es geht hoch her. Sie singen von Kanonenschiffen und müssen Stimmen wie Löwen haben. Jeder Ton geht durch die Wände, als wären sie gar nicht da.
Dabei habe ich es bisher gemocht, daß dieses Haus sehr hellhörig ist. Die alte Nachbarin hat ihre Uhren immer aufgezogen, doch seit ihr Mann tot war, wurden sie nie gestellt. Jede Uhr ging anders. Schlug die eine sechs, klingelte die andere irgendeine halbe Stunde. Kaum fünf Minuten war es wirklich still hinter der Wand. Ich glaube, sie brauchte das gegen die Einsamkeit.
Als ich hier einzog, gab es um Mitternacht noch ein Tutti des ganzen Orchesters. Ich fuhr damals oft in Panik aus dem Schlaf hoch. Doch das hat sich schnell gegeben. Ich habe mich an die Uhren gewöhnt, aber sie nicht ans Einsamsein. Jeder Gongschlag füllte eine andere Minute, jeden Tag und jede Nacht. Sie wird sich Feinde machen in ihrem neuen Heim. Dort sind die Wände noch dünner als hier, und jeder ist einsam. Das macht es nicht einfacher.
Ich versuche wirklich, mich auf die Nachbarn herauszureden. Unter acht Segeln beschießen sie noch immer die Stadt, eine Strophe für jede Kanone. Aber ich weiß, daß es mit ihnen nichts zu tun hat. Diese Wachheit hat einen anderen Grund. Sie läßt sich nicht austreiben mit Ohrstöpseln. Auch Tabletten helfen nicht.
Ich kenne diese offenen Augen im Dunkeln. Ich kenne die Geräusche im Nebenzimmer. Mutter wirft die Flasche hinters Sofa und öffnet eine neue. Ihr hilft nicht einmal Whisky. In diesem Haus schläft nur einer, und das ist mein Großvater, mit dem ich das Zimmer teile. Die Kampflieder haben ihn müde gemacht, und er schläft ganz ruhig. Es stört ihn nicht, daß seine Tochter trinkt und trotzdem nicht schläft. Es stört ihn nicht, daß ich nur wenige Meter neben ihm kein Auge zumache. Er liebt Kanonen und offene Augen, selbst wenn sie tot sind.
Ich kann nicht mit einem Mann in einem Zimmer schlafen, den ich hasse, den ich am liebsten tot sehen würde. Ich habe keine Ruhe neben ihm, und wenn er noch so tief schläft.
Wer schläft, sündigt nicht, sagte er immer, bevor er das Licht löschte und lachte dabei ein Koboldlachen. Ich weiß, ich habe für alle Sünden im voraus gebüßt. Mir bleibt nichts mehr abzutragen. Ich kann, so oft ich will, die Hände unter die Decke stecken und mich anfassen, bis mir der Bauch naß wird. Ich werde nicht müde, werde bestimmt nicht schlafen. Dieses Bett ist verwünscht, dieses Zimmer verflucht, das ganze Haus, solange er lebt.
Im Haus des Mörders spielen die Ratten ein keckes Lied. Vor diesen Stimmen bin ich geflohen. Aber sie kamen mir immer nach. Meine Mutter hat es mit Whisky geschafft. Ich mußte kotzen, wenn ich nur ein einziges Glas trank. Also konnte ich nur hoffen. Diese Hure hat ihn auch noch beerdigt, in einem richtigen Grab, mit einem richtigen Stein. Dann ist sie ihm nachgegangen.
Ich habe sein Grab ausheben lassen. Für Geld machen die Russen dir alles. Sie haben den Stein zertrümmert, den ausgegrabenen Sarg mit Benzin übergossen und angezündet. Das war ein Höllenspektakel und stand in der Zeitung.
Jede Familie hat ein dunkles Geheimnis. Deins ist geplatzt. Da bist du doch noch in die Luft aufgefahren. Da hast du noch einmal deine Frau getroffen, mit dem Loch im Nacken, mit der aufgerissenen Stirn. Da sag ihr lieb Schulamith und nimm dein Grab hoch in den Lüften, neben ihr im Kamin.
Es hat lange gedauert, bis die Nächte wieder still wurden, bis ich sein Schlaflied nicht mehr hörte, das Lied der Messer, von denen das Blut rinnt. Ich bin geflohen von Stadt zu Stadt, bis zu den Uhren der Nachbarin, bis zu Franziska. Ich habe sie wirklich geliebt. Sie hat alle Träume mit einem Kuß fortgewischt. Dafür durfte sie alles fordern.
Es ist nicht die Party der Nachbarn. Es sind die alten Lieder, die ich höre. Es ist die alte Schlaflosigkeit. Die Jalousien haben nichts genützt. Ich bin entdeckt worden. Mein Versteck ist verbrannt. Mein Großvater lebt noch und singt mir ein grausiges Lied und singt seine Frau in den Tod.
Ich habe Übung im Wachsein. Ich weiß, daß es nirgends schlimmer ist als im Bett. Früher hatte ich einen Liegestuhl im Arbeitszimmer. In dem konnte ich ausruhen, wenn auch nicht schlafen. Franziska fand das lächerlich. Und nach einigen Wochen mit schwarzen Nächten voll schweren Schlafs haben wir den Stuhl auf den Sperrmüll geschafft. Jetzt, da die Uhren fort sind und Franziska vergeblich anruft, fehlt er mir. Ich könnte ihn gut gebrauchen, denn ich bin sicher, diese Nacht wird nur die erste sein von vielen Nächten, in denen die Wände sprechen, die Laternen auf der Straße vorm Haus, die Träume aus allen Winkeln der Seele.
Ich gehe die Wendeltreppe hinauf in mein Arbeitszimmer. Das Licht bleibt aus. Die Lampen werfen nur Schatten, die den Gesichtern von Bekannten ähneln. Ich bin nicht unerfahren. Ich weiß, wie man nachts die Angst fern hält. So leicht bekommt man mich nicht.
Es tut nichts, ob ich die Augen schließe oder die Wand anstarre. Es ist ganz das gleiche. Ich habe so viele Sprachen gelernt, nur um es jedem sagen zu können, wenn es soweit wäre. Aber es kam nie die richtige Stunde. Etwas fehlte immer. Mal war es das Licht, mal die Ruhe, dann wieder der Mut. Ich unterrichte die Sprachen, aber nur in einzelnen Worten. Sätze sind zu gefährlich. Sie könnten mich immer verraten. Ich bin das Kind einer Mutter, die ein Mörder gemacht hat. Auf meiner Stirn steht SS. Wenn ihr nur genau hinseht, könnt ihr es sehen.
Darum spreche ich langsam, in jeder Sprache, auch wenn ich mir nur ein Steak bestelle im Restaurant. Wort für Wort, nur keine Sätze, das ist viel zu gefährlich. Ich muß aufhören mit dem Wahnsinn, die Fenster vermauern und den Großvater vorlassen. Wir haben noch einen offenen Streit.
Du wirst zu mir kommen und aufhören zu singen. Du wirst mir beschreiben, wie sie aussah, wie ihr Haar sich anfühlte, wie ihr Atem klang in der Umarmung. Und dann wirst du mir sagen, warum du Schlaganfälle erfinden mußtest gegen die Erinnerung an die Ledermäntel.
Ich bin ein Baum ohne Wurzeln. Ich habe nur eine Erinnerung, und das ist ein Mord. Ich kann nicht schlafen und höre dich singen. Für all das wirst du mir büßen, bis der Schmerz dich zerreißt. Bis die Nächte wieder mir gehören.
Das habe ich so oft schon gesagt, geschrien, hinausgestoßen. Aber immer war ich es, der wach blieb. Du schläfst. Du hast dich fortgemacht in den Tod ohne Scham. Wenigstens habe ich dich ausgeräuchert. Ich werde noch nach dem Rauch schnappen, um dich einzufangen und anzubinden. Ich gebe nicht auf.
Das Licht kann ich wirklich nicht anschalten. Aber bei allem, was ich denke, spüre ich doch, daß diese Nacht nicht so ist wie die anderen, daß sich etwas verändert hat. Ich spitze die Ohren und lausche in die Nacht hinaus. Die Party ist ruhiger geworden. Sie singen nicht mehr. Bestimmt sind sie betrunken. Ich höre aber noch immer Musik. Sie kommt aus dem Nebenzimmer. Erst sind es nur vereinzelte Töne, dann langsame Läufe. Jemand spielt Klavier. Es ist ein sehr einfaches Stück und wiederholt sich ständig. Ich könnte es nachsingen, wenn das Klavier aufhört. Aber das brauche ich nicht. Die Musik bricht nicht ab, sie fließt wie ein Bach aus der Wand auf mich zu.
Es ist das Lied, das ich singe, der Tanz, den ich tanze, sagt eine Stimme. Die Wand ist ein Grab, sagt ein Mädchen im weiten Mantel, aber ich lebe noch. Ich tanze für dich. Sieh mir zu!
Sie ist wirklich schön. Ihr schwarzer Zopf verbirgt den Nacken. Da sind gewiß keine Löcher. Sie leckt sich die Lippen und schwingt die Hüften im Takt der Musik. Ich kann ihre Hand auf meiner Stirn fühlen, wenn ich die Augen schließe. Vielleicht will sie das. Vielleicht habe ich genug gesehen.
Ich lehne mich zurück und falle tief. Es ist kein Schlaf, nur ein Dämmern. Ich sehe einen Mann, der ein Gleis abgeht, stumpfsinnig, von Schwelle zu Schwelle. Er sieht kein einziges Mal auf, geht und geht und schlägt mit einem großen Hammer gegen die Schienen. Wenn er den Zug nicht hört, der hinter ihm immer näher kommt, ist es bald überstanden. Aber er hat noch Zeit, noch schlagen die Uhren im Takt. Ich will ihn dennoch warnen und greife nach seinem Arm. Da sieht er mich an.
Wir haben uns gleich erkannt. Er ist ich und hat den Schlaf in den Nächten aufgegeben. Das Mädchen lacht. Sie hat gut tanzen. Jede Nacht, sagt sie, hat ja ein gutes Ende. Wenn es hell wird, ist alles vorbei.