Es ist eine felsige Gegend
/Richard/ Es ist eine felsige Gegend. Ich stehe auf einem Plateau und kann die ganze Umgebung überblicken: steil aufragende Granitwände, Felsschroffen. Pflanzen wachsen hier nicht mehr. Das Atmen fällt mir schwer, aber ich habe einen guten Ausblick.
Wie lange ich gebraucht habe, um bis hier hinauf zu kommen, kann ich nicht sagen, nur, daß es ein beschwerlicher Aufstieg war. Ich habe mir die Fingernägel abgebrochen, als ich mich im Stein festzukrallen versuchte; und am ganzen Körper habe ich Abschürfungen. Das kommt von den Rückschlägen, wenn ich keine Vorsprünge fand, an denen ich mich hätte festhalten können, und abrutschte, ein Stück hinabglitt am Felsen, bis ich mit meinen Füßen wieder einen Halt fand. Besonders schlimm hat es meine Hände getroffen. Die Fingerkuppen sind offen, und auf den Handflächen zeichnen sich braunschwarze Linien geronnenen Blutes ab wie vertrocknete Arme eines Flußdeltas. Auch der Stoff meiner Hose über den Knien ist zerrissen, und ich spüre einen stechenden Schmerz von dorther, als wäre ein Dorn hineingebohrt, der sich rhythmisch bewegt, mit jedem Pulsieren des Blutes tiefer hineingeschlagen wird.
Aber ich habe es geschafft, sage ich mir. Zumindest glaube ich das. Immerhin bin ich bis zu diesem Plateau gekommen und kann einen Moment ausruhen.
Ich sollte nicht hinuntersehen in den Abgrund, denke ich. Aber ich merke, daß ich nicht anders kann. Ich muß hinuntersehen, bis mir schwindlig wird. Ich glaube, das sind meine Augen. Sie sind es, die immer in die Abgründe sehen wollen. Was sie sehen, ist schrecklich. Immer ist es das gleiche: Sie wollen dann das Schreckliche nicht, sondern abgewandt sein. So können sie die Qual loswerden. Mir aber wird schwindlig, denn ich kann nicht vergessen, was meine Augen mir gezeigt haben.
Ich muß weiter, denke ich und wende mich um. Das Plateau erstreckt sich weit vor mir. Es wird nicht mehr schwierig sein, weiter vorwärts zu kommen. Nur ganz fern ragt eine weitere Felswand auf, von der ich nicht sicher bin, ob es mich, wenn ich dort angekommen bin, noch treiben wird, auch sie zu erklimmen. Ich muß an die Luft denken und an den Schmerz in meinem Knie. Während des Aufstiegs hatte ich ihn in meiner Angst vor einem Absturz kaum bemerkt. Jetzt aber ist die Gefahr vorüber. Ich bin auf dem Plateau und kann ihn nicht mehr wegängstigen. Er ist da und erschwert mir das Gehen. Ich humpele.
Zum Glück entdecke ich keinen Menschen weit und breit. Das wäre gefährlich. Aber es ist niemand da. Ich kann beruhigt sein und weiter suchen nach dem, von dem ich nicht weiß, was es ist, nur, daß ich es nirgendwo anders als hier finden kann. Nur deshalb habe ich den Aufstieg gewagt. Es ist eine Sehnsucht. Ich muß weiter suchen, darf damit nicht aufhören, nicht innehalten. Was ich suche, hat immer einen Vorsprung vor mir. Und es ist beweglich. Wenn ich ihm nicht beständig auf den Fersen bleibe, da ich es nun einmal nahe weiß, wird es mir schnell wieder entgleiten und vielleicht für immer fort sein und unerreichbar.
Bin ich nicht aber wie gefangen auf diesem Plateau? Ringsum der Abgrund, und nur an einer Stelle gibt es ein Weiterkommen. Es ist eine schmale Brücke, die über die Schlucht hinwegführt. Dorthin, denke ich, muß ich. Dort kann ich weiter.
Wie schön diese Brücke ist! Eine ausgeklügelte Konstruktion aus mahagonifarbenen Holzbalken, denen ein Geruch entströmt von… Was ist das? Thymian und Zimt? Genau kann ich es nicht sagen. Aber ich vertraue dieser Brücke. Über sie werde ich gehen, sage ich mir und wage den Schritt.
Die Brücke bebt unter mir, und ich ahne es, ja, ich weiß, daß du es bist, meine Freundin, über die ich gehe. Die Holzbalken sind verwandelt. Lebendiges Fleisch ist das nun unter meinen Füßen. Ich weiß, meine Freundin, ich gehe auf dir. Du zitterst. Und ich weiß: Es ist Freude und Angst, daß du zu weinen anfängst. Du ahnst schon, daß du mich nicht wirst halten können, daß es nicht gut ausgehen kann. Beinahe hätte ich sogar noch meinen Schuh auf deinen Nacken gesetzt. Dein Weinen jedoch hat mich verunsichert. Und so zögere ich, weiterzugehen, denn ich will dich nicht quälen.
Ich hätte dieser Brücke nicht trauen dürfen. Jetzt weiß ich es. Wir sind gestürzt, und es ist ein Wunder, daß wir noch leben. Wir sehen uns nicht in die Augen. Das würde Erinnern bedeuten. Wir könnten Vorwurf entdecken im Blick des andern. Und wir glauben doch, vergessen zu müssen und Vorwürfe nicht zu brauchen.
Wir müssen fortgehen von diesem Ort. Wir müssen einander allein lassen, schnell, und gehen. Du nennst es Flucht, aber ich werde wieder hinaufsteigen bis zum Plateau. Vielleicht werde ich wieder zu einer Brücke kommen, und sie mag sogar halten.
Ich, sagst du, liebe das warme Fleisch voller Angst unterm Fuß. Überm Abgrund hängen die Träume.
Am 1. Januar 2008 um 17:42 Uhr
[…] Die Aussicht vom Plateau ist in alle Richtungen atemberaubend. Leider war es ein wenig diesig. Das Tote Meer war jedoch zu sehen. An den Felsen ringsum konnte ich mich kaum sattsehen. Ich fühlte mich erinnert an eine Episode aus dem “Anderen Blau”… […]