Dr. Anthony

/Daniel/ Dr. Anthony trägt auf der Stirn ein Heftpflaster. Psychiatrischer Selbstversuch, sagt er: Habe die Seele gesucht. Ich, sage ich, schraube meinen Kopf auf, auseinander wie eine Kokosnuß. Jeden Abend. Meine Seele ist da. Ich würge sie. Jeden Abend. Aber sie bleibt am Leben. Sie streunt umher auf verlassenen Gates riesiger Flughäfen und schwebt durch die Glaswände hinaus auf die nächtliche Rollbahn. Ich habe ein Fliegerherz und eine Fliegerseele. Nur mein Kopf ist zu schwer und hält mich zurück am Boden.

Ich konnte nicht ahnen, wie fremd ihr mir seid. Ich versuche, in eure Haut zu schlüpfen, eure Zungen zu lösen und euch ein Wort zu entlocken. Doch ihr geht ein und aus durch alle Türen und laßt mich zurück. Und ich finde in dem Staub auf euren Schuhen doch nichts von euch.

Bin ich verlassen? Wann seid ihr gegangen? War es gestern oder erst heute? Oder seid ihr schon lange fort, und ich habe es nur nicht bemerkt?

Kommt mir Daniel entgegen aus den Spiegeln der Dämmerungen, ist er blaß. Vielleicht hat er in jenen Nächten damals so viel Schlaf versäumt, daß er es nicht mehr aufholen kann und immer übernächtigt aussieht. Er ist nur noch ein Teil von dem, was er war. Jeder, der kam und ging, jeder Traum, jedes Wort, jeder Ton, der durch die Wand drang und den Nächten den Schlaf austrieb, nahm ein Stück von ihm mit sich fort.

Es blieben: zwei Arme und ein Herz, ein Knäuel von Adern und Muskeln. Daraus bin ich geworden. Ich habe ein Herz adoptiert. Wie fremd es mir ist, konnte ich nicht ahnen. Ich gehe ein und aus durch alle seine Türen und finde doch an dem staubigen Muskel nichts von mir selbst.

Die Schwester kommt, sagt: Guten Morgen. Ich lächle ihr zu und möchte sie küssen. Dieses Verlangen habe ich jeden Morgen, wenn sie das lindgrüne Frühstück auf dem Tablett hereinträgt. Sie sieht Nina sehr ähnlich, wenn sie auch blond ist. Wahrscheinlich ist es ihr Mund.

Ich schließe die Augen und atme sehr langsam. Sie wird mich wecken, denke ich, bevor sie wieder geht. Und wenn sie sich zu mir herunterbeugt, werde ich sie berühren. Meine Hand wird ihr etwas erzählen: von einem, der durch Fenster hinausgeht und im Fallen die Luft zerteilt mit seinen Armen, weil er noch immer den Traum vom Fliegen träumt. Da war eine Fahrkarte, ein Glas, eine auseinander genommene Uhr, Zahnrädchen, verstreut auf dem Tisch, rings um die Feder, die entspannt dalag, entspannt, entspannt, endlich entspannt neben dem leeren Gehäuse.

Aber sie will nichts wissen davon und schleicht sich hinaus wie all die anderen fremden Feiglinge, die sich vorm Fliegen fürchten und vor denen, die morgens keine Furcht kennen vor dem Flügelschlagen über der Straße.

Wie fremd ihr mir seid, konnte ich nicht ahnen. Selbst mein Herz ist ein Fremder in mir und schlägt einen Rhythmus, nach dem ich nicht tanzen kann. Ich erinnere mich noch an den, der ich war in den taglauten Nächten, doch mein Gedächtnis ist narbig wie der kahle Schädel des Mondes.

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