Der Möbelwagen kam schon früh am Morgen

/Nina/ Der Möbelwagen kam schon früh am Morgen. Christa hatte gesagt, ich könnte ruhig zur Schule gehen. Und ich war ganz froh darüber, dem Trubel zu entkommen. Die letzte Woche war ohnehin aufregend genug gewesen. Wir hatten alles in Kisten verpackt: Geschirr, Wäsche, Bücher, allen möglichen Krimskrams. Was da so zum Vorschein gekommen ist, und was wir alles weggeworfen haben. Da habe ich erst bemerkt, was so ein Umzug bedeutet, weniger vom Aufwand her, eher vom Gefühl. Ich meine diesen Wagemut, sich von verschiedenen Dingen zu trennen, an denen man immer zu hängen glaubte.

Das waren so Dinge wie die kleine weiße Porzellanschale, die Vater als Aschenbecher benutzt hatte und die seit der Scheidung nutzlos im Küchenschrank stand. Es rauchte ja keiner von uns. Aber Christa hatte sie nie wegwerfen wollen, obwohl sie wirklich nicht schön und schon angeschlagen war. Jetzt aber kam sie in den Müll. Und wie sie sie wegwarf – nach einem kurzen Zögern, doch dann mit einer ganz resoluten Bewegung. Wenn der Umzug nicht gewesen wäre, hätte sie die Schale im Küchenschrank stehen lassen. Vielleicht nur, um sich ab und an wieder ein Bild zurückzurufen, das schwer zurückzurufen sein mußte. Denn zu dieser weißen Porzellanschale gehörte eine Zigarette, eine von denen, die Vater geraucht hatte. Und wenn sie die sah, fiel ihr vielleicht auch wieder ein, wie er sie gehalten hatte, und seine Hand, Vater, wie er rauchte, während er an unserem Küchentisch saß, der nun auch einen anderen Platz bekommen würde.

Ich habe Christa genau beobachtet, als sie den kleinen Aschenbecher wegwarf, nachdem sie ihn einen Moment betrachtet und in der Hand gewogen hatte, wie um herauszufinden, ob er schwer genug wog für sie, um ein Recht darauf zu haben, an den neuen Ort hinübergerettet zu werden. Aber dann warf sie ihn doch weg, als würde sie etwas wegwischen. Und ich dachte: vielleicht sollte man öfter umziehen.

Der Möbelwagen war schon früh am Morgen gekommen. Christa und der Schauspieler halfen, die Kisten aufzuladen. Das Klavier sollte erst gegen Mittag abgeholt werden. Ich könnte ruhig zur Schule gehen, sagte Christa. Und als ich mich verabschiedete, umarmte sie mich und gab mir einen Kuß. Das tat sie sonst nicht, wenn ich morgens zur Schule ging. Und an diesem Morgen war ich froh darüber, daß sie es tat. Es war wie ein Versprechen.

Als ich nach der Schule zu unserer neuen Wohnung kam, war der Möbelwagen schon wieder fort. Von der Straße aus deutete nichts darauf hin, daß heute jemand hier eingezogen war. Nur das provisorische Pappschild hätte auffallen können, das der Schauspieler an der Eingangstür zu dem kleinen Garten vor unserem Haus angebracht hatte und auf dem mit seiner dekorativen Handschrift unsere Namen standen: Lang und Lange. Ich mußte lächeln bei dem Gedanken, daß Christa sich nur ein »e« anheiraten würde. Ein einziger Buchstabe würde den Unterschied ausmachen. Wer weiß, ob überhaupt jemand unter unseren ferneren Bekannten die Veränderung bemerken würde, wenn wir es ihnen nicht sagten.

Ich mochte noch nicht in die neue Wohnung gehen und blieb noch einen Moment vor dem Haus stehen. Es ist ein Backsteinbau, ein Zweifamilienhaus aus den sechziger Jahren, die Vorderfront bis hoch zur Dachrinne von Efeu überwuchert. Im Vorgarten wachsen Disteln und Löwenzahn.

Unser Nachbar hat einen eigenen Hauseingang. „D. Klein“ steht auf dem weißen Emailschild an seiner Tür. In diesem Teil des Hauses waren die Fenster mit Jalousien verhängt, deren schräg angestellte Lamellen den Blick in die Zimmer versperrten. Das hatte etwas Verschleierndes, auf gewisse Art Geheimnisvolles, ganz wie das „D.“ auf dem Schild, das den Namen nur andeutete. Ich überlegte, was dieses „D.“ bedeuten könnte. Doch ich kam auf keinen Namen, den ich für möglich gehalten hätte.

Warum überhaupt sah ich mir das alles so genau an? Es spielte ja doch keine Rolle, ob es mir gefiel. Ich würde hier wohnen müssen, ob ich wollte oder nicht. Deswegen hatte ich auch nicht mitgehen wollen, als Christa und der Schauspieler sich mit dem Makler trafen, um die Wohnung anzusehen. Vielleicht hätten sie mich ja sogar nach meiner Meinung gefragt. Aber am Ende wäre es dann doch ganz allein ihre Entscheidung gewesen. Da war es mir lieber, erst hierher zu kommen, wenn ich genau wußte, daß nichts mehr zu ändern war.

Schließlich klingelte ich doch an unserer Tür. Der Schauspieler öffnete, sagte nur Hallo und ging gleich wieder daran, Kisten auszupacken, Regale aufzustellen und mit Christa die Schränke einzuräumen. Sie waren schon recht weit. Das wunderte mich, wie schnell sie sich einrichteten. Aber sie hatten Tage zuvor ja schon stundenlang diskutiert, wie sie unsere und Henrys Möbel stellen würden.

In der unteren Etage gibt es neben Küche und Bad nur einen Raum, der das Wohnzimmer werden soll. Vom Flur aus führt eine breite Wendeltreppe hinauf in die zweite Etage. Hier gibt es zwei Zimmer: das neue gemeinsame Schlafzimmer der beiden und den Raum, der mir gehören soll. Christa sagte, ich solle gleich hinaufgehen und es mir ansehen. Das Klavier hätten die Möbelträger unter Flüchen schon nach oben gebracht.

Ich ging nicht sofort hinein, sondern stand noch eine ganze Weile vor der Tür meines ersten eigenen Zimmers. Doch als ich dann vorsichtig die Klinke hinuntergedrückt hatte und die Tür langsam, Stück für Stück, öffnete, wußte ich mit einem Mal, daß ich dieses Haus wirklich mochte. Daß ich die Wohnung mochte und mein erstes eigenes Zimmer, das wie durch ein Wunder genau so war, wie ich es mir gewünscht hatte – direkt unter dem Dach mit von der Türseite aus schräg abfallender Decke. Es hat zwei Dachfenster, durch die der Himmel geradezu hereinzufallen scheint, und an der Giebelseite ein französisches Fenster mit einem alten schmiedeeisernen Gitter. An der Wand gegenüber dem großen Fenster, an die die Nachbarwohnung grenzen muß, stand das Klavier, mitten im Raum meine Liege und ringsherum die Kisten, in denen ich meine Sachen für den Umzug verstaut hatte.

Ich schloß die Tür und ging langsam in meinem neuen Reich umher. Etwa vier Meter sind es von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand, fünf vom Fenster aus bis zum Klavier. Ich versuchte, mir vorzustellen, wie das Zimmer mit allen Möbeln aussehen würde. Der Schreibtisch, den Christa mir abgetreten hatte, sollte ans Fenster. Den kleinen Schrank und die Regale, die wir gekauft hatten, würde ich auf die Türseite stellen und das Bett an die Wand gegenüber der Tür, so daß ich im Liegen aus dem Dachfenster in den Himmel sehen könnte.

Ich ließ mich auf meine Liege fallen, verschränkte die Hände unter dem Kopf und sah durch das kleine Fenster über mir hinaus auf die Wolken. Kaum bist du hier, dachte ich, fängst du an zu träumen.

Mir gefiel dieser Raum, und ich würde ihn in Besitz nehmen, das wußte ich, ihn okkupieren, mit Beschlag belegen und etwas aus ihm machen, das ganz und gar mir und nur mir gehört.

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