Dein Ausgehen am Morgen
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/Eva/ Dein Ausgehen am Morgen: ein Wort, ein Kuß; so flüchtig.
Während du über den Hof gehst, stehe ich am Fenster und winke. Doch du drehst dich nicht um, bemerkst mein Winken nicht und mein plötzliches Innehalten. Wie ich langsam die Hand sinken lasse und lächle, enttäuscht und entschuldigend zugleich, als hätte ich einen Fremden mit einem Freund verwechselt und ihn überschwenglich gegrüßt als jemanden, der er nie war.
Du hast die Hoftür geöffnet und bist fortgegangen. Du hast dich nicht umgedreht; und so ist dir all dies entgangen: mein Winken, mein Innehalten, mein stilles Aufgeben vor dem Tag, als ich die Gardine wieder vors Fenster zog und ins Dunkel des Zimmers zurücktrat.
Wo bist du, wenn ich mich über mich beuge im großen Spiegel auf dem Flur? Wenn ich zu der Frau, die mir von dort entgegensieht, sage, daß sie sich kämmen soll; und niemand antwortet und nichts geschieht?
Die Zigarette im Mundwinkel läufst du unruhig den Boulevard entlang. Am Bahnhof hast du die Aktentasche ins Schließfach gesperrt, den Mantel aufgeknöpft und die Haare aus der Stirn gestrichen.
Es ist Zeit.
Du steuerst auf das Café zu in der kleinen Passage, vor dem ich jeden Tag spiele, gegen Mittag. Ich werde noch vor dem Spiegel sitzen, wenn du dort ankommst, vor dem Spiegel sitzen mit Kamm, Pomade und Schminke. Und so wirst du beschließen zu warten und einen Cognac bestellen.
Du weißt: Es kann nicht lange dauern, bis ich hinauskomme. Die Schminke ist ein gutes Alibi, noch Zeit verstreichen zu lassen. Doch auch diese Galgenfrist hat ein Ende. Und das Rouge muß wirken.
Dann werde ich hinausgehen, den Klingelhut vor mir aufs Pflaster stellen und zu spielen beginnen. Von deinem Tisch aus wirst du mir lange zuschauen, genau auf all meine Gesten achten und die Regungen meines Gesichts: Was tut der Mund? Was die Augen?
Du wirst versuchen, dir alles genau einzuprägen, um es später vielleicht einmal wiederholen zu können. Das nennst du sprechen: Meinem Körper die Stimme ablauschen und sie kopieren. Du bestaunst meine Umarmung, meine Küsse ins Leere; und du glaubst, nicht zu wissen, wen ich küsse, doch daß ich liebe.
So kommst du, wie ausgehungert, jeden Tag. Abends sitzt du im zweiten Rang des Theaters, das Opernglas an die Augen gepreßt, und mittags hier, an deinem Tisch im Café. Dein Zuschauen ist eine Art, von Liebe zu träumen, ohne an sie zu glauben: Sehen Sie meine Frau; mir genügt ihr Spiel. Und ich soll schweigen.
Nachher wirst du die Rechnung begleichen, das Café verlassen und eine Münze in meinen Hut werfen, um mir nichts schuldig zu bleiben vor dem Abend. Es beruhigt dich und schmerzt nur ein wenig.
Wie soll ich die Perücke herunterreißen, meine Rolle verlassen? Ich habe dir einen zweiten Cognac kommen lassen. Ich will die Münze nicht und daß du gehst ohne ein Wort. So steht es auf dem Zettel, den der Kellner dir reicht, mit einem Gruß von mir: Du solltest mich sehen, wenn ich dir winke. Du würdest erstaunt sein über dein Gefühl und umkehren.
Warum kommst du hierher? Was schaust du mir zu? Für dich ist doch all dies nur Geste und ich nur Mimin, die die Schminke liebt, den Spiegel und die Flucht auf die Bühne. Du versuchst, meine Gesten zu deinen zu machen und verzweifelst, weil es nie gelingt und dein Spielen nur ein ratloses Suchen ist.
Du hast nicht begriffen, daß ich um mehr spiele als um deine achtlos in meinen Hut geworfene Münze. Und nichts begriffen von der Vergeblichkeit meines Spiels und meines Winkens am Morgen. Du hast nichts begriffen.
Das ist ein Tag für dich: der Mantel offen, im Mundwinkel glimmt die Zigarette, und auf dem Bahnhof liegt, gebändigt im Schließfach, die Aktentasche: meine Frau, die Mimin, meine Frau, die die Schminke liebt und sich über den Spiegel beugt, bevor ich komme und wenn ich gehe.
Das ist ein Tag für dich wie alle anderen.
Du bist fortgegangen und hast dich nicht umgedreht.
Am 6. Juli 2007 um 00:06 Uhr
[…] Pagen” fiel mir natürlich obiger Page ein. Und bei den letzten Zeilen fühlte ich mich ganz in diese Szene […]