Das Fest ist vorbei

/Richard/ Das Fest ist vorbei. Die Gäste haben sich ausgesungen und ausgetanzt und sich ausgelacht und eine Nacht ausgeatmet; und jetzt ist es Zeit zu gehen.

Wie uns niemand begrüßt hat, als wir kamen, so wird uns auch niemand verabschieden wollen. Wir waren die unerkannten Gäste am Party-Buffet. Wir waren die Erinnerungsfetzen, die in einer abwesenden Minute vor dem inneren Auge eines angetrunkenen Tänzers vorüberhuschten. Du weißt es ja: Niemand hat uns eingeladen; wir wurden nicht bestellt, und ich glaube sogar, daß außer uns selbst niemand wirklich weiß, daß wir hier sind.

Während sie stiller werden, sich immer öfter ansehen und verstohlene Blicke auf ihre Handgelenke werfen, und während sie nach den Mänteln greifen, um sich auf den Weg zu machen, während ein Abschied den anderen ablöst, müssen wir uns fragen, warum wir noch hier sind und ob es nicht auch für uns Zeit wird zu gehen. Hast du dich nie gefragt, warum wir in diesem Betongefängnis ausgesetzt wurden? Hast du dich nie gefragt, warum das Blut auf deinen Lippen nicht trocknet?

Unsere Zeit wurde angehalten. Und wir sollten uns nicht länger betrügen: Für uns heißt das nur, daß man unser Sterben ausgesetzt hat für einige Tage oder auch nur Stunden. Ein Beschluß, für den wir den Grund nicht kennen. Eine Galgenfrist, um die wir nicht gebeten haben. Du solltest noch tanzen. Ich sollte noch schauen und tasten und ein junges Mädchen verführen und Grashalme zählen in deinen Augen.

Meine Großmutter verließ nie das Haus, ohne zuvor noch fünf Minuten auf ihrem Stuhl neben der Tür zu sitzen und mit offenen oder geschlossenen Augen das kleine Heim zu vermessen. Ich habe mich immer gefragt, warum sie jedesmal einen Abschied zelebrieren mußte, als würde sie dieses Mal nicht zurückkehren und müßte die Atmosphäre des Raumes an diesem Tag, zu dieser Stunde, ganz in sich aufnehmen, in sich einschließen, einbrennen und versiegeln, um ihn nie verlieren zu können – die Erinnerung festgenagelt an die Netzhautleinwand – als wäre jeder Gang zum Supermarkt um die Ecke womöglich der letzte Ausflug, ein Weggehen ohne Wiederkehr. Das Auto würde fortwährend in Achten und großen Schleifen über regennasse Straßen einem beweglichen Ziel hinterhersetzen, ohne je anzukommen. Ein Abschied, so regennaß und graulich grau wie Provinzbahnhöfe um Mitternacht.

Daran müssen wir denken, vergiß das nicht. Wir sind nicht hier, um zu bleiben. Wir sind hier, um eine kleine, eine kurze Rast zu genießen vor einem neuen Aufbruch. Du kannst sicher so tun, als wüßtest du nichts davon. Aber es wird dir nichts nützen. Du wirst dich, wenn der Augenblick kommt, nicht festkrallen können in der Wand, um nicht fortgerissen zu werden. Du wirst dich, wenn das Boot ablegt, nicht am Ufer eingraben können, um noch zu bleiben.

Vielleicht mußten wir sein, was wir waren; aber wir können gewiß nicht bleiben, was wir sind.

Das schmale Rinnsal, das aus deinem Mundwinkel quillt, wird kräftiger werden, und schließlich wird das Leben in einem armdicken Strahl aus dir herausbluten. Es liegt in der Natur deines Tanzens, daß die Schuhe zu früh durchgetanzt sind, wie es in der Natur meines Wartens unter den Sonnenschirmen lag, daß mein Herz einschlafen mußte mitten am Tag.

Vielleicht sind wir nur hier, um den wortlosen Abschied zu lernen, um langsam aus uns herauszutreten und Adieu zu sagen – zu Sonnenschirmen und Glockenmänteln und fratzenhaften Erinnerungsschatten, fleischigen Fetzen verwesender Herzkammerteppiche.

Die Dienerschaft hat Dauerausgang. Es liegt nun ganz bei uns, und wir müssen selbst die Hände ins Blut tauchen und uns aus dem Schoß ziehen und noch einmal Atem schöpfen und einen Schrei ausstoßen und eine Umarmung riskieren und eine Fünfminutenfrist genießen auf dem Stuhl neben der Tür zur mitternächtlichen Bahnhofswelt. Das ist eine Abschiedsnacht. Das ist unsere Abschiedsnacht.

Das Fest ist vorbei, die Gäste gegangen, und nur wir sind noch geblieben. Und auch dieses Innehalten wird noch vorübergehen und wie eine müde Welle an einem Ufer auslaufen und sich erschöpfen.

Tanze, tanze, aber du wirst dich doch schon bald auf dem Großmutterstuhl neben der Mitternachtstür wiederfinden. Ich habe es dir gesagt. So bist du gewarnt. So kannst du das Blutrinnsal mit deinen Händen auffangen, wenn es herausbrechen will.

Dann bin ich bei dir.

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