Moesta et errabunda

Sag‘ mir, flüchtet dein Herz sich manchmal, Agathe
Aus der unreinen Städte schwarzem Ozean weit
Zu einem anderen Meer, dessen leuchtend Gestade
Blau und klar und tief, wie die Jungfräulichkeit?
Sag‘ mir, flüchtet dein Herz sich manchmal, Agathe?

Das Meer, das weite, unendliche spendet uns Trost!
Welcher Dämon gab seinem tönenden Sinken und Steigen,
Das brausend des Sturmwinds Riesenorgel umtost,
Gab ihm der Wiege heilige Kräfte zu eigen?
Das Meer, das weite, unendliche spendet uns Trost!

Entführe mich, Wagen! Segel, trag mich von hinnen!
Schlamm ward aus Tränen und Staub. Entführe mich weit
Fühl‘ ich Agathens traurige Seele nicht sinnen
Und rufen: »Ferne von Sünden und Reue und Streit
Entführe mich, Wagen! Segel, trag mich von hinnen!«

Wie fern bist du, Garten, von himmlischen Düften getränkt,
Wo unter leuchtendem Blau nur Freuden uns winken,
Wo uns die Liebe nimmer enttäuscht und gekränkt,
Und in reinen Wonnen die schuldlosen Seelen versinken !
Wie fern bist du, Garten, von himmlischen Düften getränkt.

Doch unsrer kindlichen Liebe blühendes Eden,
Lieder und Küsse und Blumen und Spiele im Hain,
Und fern von den Hügeln des Geigentons zitternde Fäden
Und abends der fröhliche Sang und die Krüge voll Wein,
Doch unsrer kindlichen Liebe blühendes Eden,

Himmelsgarten voll heimlichem, schuldlosem Glück,
Seh ich dich fern wie Indiens Gestade entschweben?
Zwingen dich, tiefe, schmerzvolle Seufzer zurück,
Ruft eine silberne Stimme dich wieder ins Leben,
Himmelsgarten voll heimlichem, schuldlosem Glück?

Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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