Die beleidigte Luna

Der unsre Väter fromm ergeben waren,
Luna, die hoch im Strahlenschlosse lebt,
Von der geschmückten Sternenschar umschwebt,
Du alte Cynthia, Lampe in Gefahren,

Siehst du die Liebenden auf harten Bahren?
Den frischen Hauch, der sie im Schlaf umwebt?
Den Dichter, der vom Werk den Blick nicht hebt?
Die Vipern, die im trocknen Gras sich paaren?

Schleichst du im gelben Domino verstohlen
Noch jede Nacht dahin auf scheuen Sohlen,
Wo der verblühte Reiz Endymions winkt?

– »Ich sehe deine Mutter, Kind der Erde,
Wie sie, gebeugt von Alter und Beschwerde,
Die Brust, die dich gesäugt, vorm Spiegel schminkt!«

Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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