Der Balkon

Du, der Erinnrung Quell, du Frau der Frauen,
Die all mein Leid und all mein Glück gebracht!
Kannst du im Geist die Freuden neu erbauen,
Des Herdes Süssigkeit, den Rausch der Nacht?
Du, der Erinnrung Quell, du Frau der Frauen.

In stillen Nächten bei der Kohle Glut,
Auf dem Balkon, vom rosigen Duft umgeben,
Wie war dein Busen süss, dein Herz mir gut,
Wir tauschten Worte, ewig wie das Leben,
In stillen Nächten bei der Kohle Glut!

An heissen Abenden wie schön die Sonne!
Der Raum so tief! Das Herz voll Kraft und Mut!
Ich neigte mich zu dir, o Königin der Wonne,
Und trank den Duft, den Duft von deinem Blut, –
An heissen Abenden wie schön die Sonne!

Dann sank die Welt in nächt’ge Dunkelheit,
Mein Auge suchte deins. Die Nacht ward stummer,
Ich trank dein Atmen, Gift voll Süssigkeit,
In meinen Bruderhänden lag dein Schlummer,
Dann sank die Welt in nächt’ge Dunkelheit.

Ich kann sie wecken, jene holden Zeiten,
Da all mein Glück in deinem Schoss geruht,
Denn wer kann wehmutvollre Lust bereiten,
Als es dein Leib, dein sanftes Herze tut?
Ich kann sie wecken, jene holden Zeiten.

Ihr Schwüre, Düfte, Küsse steigt hervor,
Steigt aus dem tiefen Abgrund meiner Qualen,
Wie Sonnen, die aus Meeresgrund empor
Zum Firmament in junger Schönheit strahlen ;
Ihr Schwüre, Düfte, Küsse steigt hervor!

Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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