Das Skelett als Arbeitsmann

I

In jenen anatomischen Räumen
Am Kai, wo in der Bretter Haft
Manch altes Buch liegt, leichenhaft
Und mumiengleich in tiefen Träumen,

Und Bilder, deren schwerer Sinn
Und eines alten Meisters Können,
Trotz ihres ernsten Stoffs uns gönnen,
Der Schönheit Anblick und Gewinn,

Dort sieht man – und das tiefe Grauen
Vor unsren letzten Rätseln schwillt –
Skelette sieht man, furchtbar Bild,
Arbeitern gleich das Feld bebauen.

II

Aus diesem Boden, drin ihr grabt,
Gesellen finster und ergeben,
Mit aller Kraft, die euch gegeben,
Mit allen Muskeln, die ihr habt,

Sagt, welche Ernte wird nun euer,
Ihr Sklaven, dem Verliess entflohn?
Sagt, welcher Pächter zahlt euch Lohn?
Und wem füllt ihr das Haus, die Scheuer ?

Zeigt ihr (ein Sinnbild unerhört
Für des zu rohen Schicksals Strenge)
Dass man selbst in des Grabes Enge
Uns den versprochnen Schlummer stört;

Dass uns das Nichts wird zum Verräter,
Dass alles, selbst der Tod, uns lügt,
Dass über uns vielleicht verfügt,
Im unbekannten Lande später

Nach einem unbekannten Pakt
Rastlos im störrischen Grund zu graben,
Den Spaten unterm Fuss zu haben,
Dem Fuss, der blutig, wund und nackt?

Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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