Ich beschloss, mich abzulenken.
Seit Jahren schon hatte ich vorgehabt, einmal ins Vallée de Joux zu reisen, jenes raue Tal im Schweizer Jura in der Nähe von Genf, in dem drei der berühmtesten Uhrenmanufakturen der Welt ihren Hauptsitz haben: Breguet, Jaeger-LeCoultre und Audemars Piguet. Wie andere Abenteuerwünsche, etwa mit dem Jeep durch die Sahara zu fahren oder im Roten Meer Tauchen zu lernen, hatte ich mir jedoch auch diesen bislang nicht erfüllt. Anders als jene Wünsche aber war dieser leicht umzusetzen, und die Gelegenheit war günstig.
Eine der Armbanduhren, die ich nicht verkauft und vor dem Zugriff des Gerichtsvollziehers gerettet hatte, ist ein »Royal Oak Chronograph« von Audemars Piguet mit weißem Zifferblatt und Stahlband, eine eher unauffällige Uhr für jeden Tag, der man dennoch – ein Liebhaberauge vorausgesetzt – auf den ersten Blick ansehen kann, wie viel Erfahrung, Können und Geduld auf ihre Herstellung verwendet wurden.
Nach sechs Jahren, die ich diese Uhr nun besaß, hatte sie sich eine Revision verdient. Die Werke von Armbanduhren sind klein, leisten jedoch Erstaunliches. Der Reifen der Unruh beispielsweise, des beständig schwingenden Herzens, welches das Werk meines Chronographen in Gang hält, legt pro Jahr eine Strecke von 5.200 Kilometern zurück. Das entspricht in sechs Jahren immerhin drei Vierteln einer Äquatorumrundung. Ganz ohne Verschleiß an den beweglichen Teilen des Werks und also auch eine gelegentliche Wartung kann das feinste Uhrwerk eine solche Leistung nicht vollbringen.
Mein Konzessionär hatte mir empfohlen, die Uhr direkt bei Audemars Piguet einzuschicken. Gerade die Regulierung erforderte einen Uhrmacher mit großem Geschick und Erfahrung. So hatte ich meine »Royal Oak« zwei Monate zuvor beim Konzessionär gelassen, der sie zur Begutachtung einschickte. Binnen einer Woche bekam ich Nachricht von AP. Die Gangpartie war zu ersetzen. Das Werk musste demontiert, gereinigt, geölt und reguliert werden. Auch Gehäuse und Band sollten eine leichte Auffrischung erhalten. Acht bis zehn Wochen würde ich mich gedulden müssen, dann aber die Uhr wie neu zurückbekommen.
Nun sollte man eines gewiss nicht tun: einen Uhrmacher hetzen. Die Gelegenheit, mir eine Auszeit zu gönnen und gleichzeitig einen lange gehegten Wunsch zu erfüllen, indem ich persönlich nach Le Brassus fuhr, um meine Uhr in den dortigen Werkstätten des Mutterhauses von AP abzuholen, schien mir jedoch zu verlockend. Ich rief also in der Presseabteilung der Manufaktur an und fragte, ob ein solcher Besuch für einen Privatkunden überhaupt möglich sei.
Aber selbstverständlich sei das möglich, beschied mir die Pressedame. Man würde mich, wenn ich schon einmal dort sei und es wünschte, gern durch das hauseigene Museum und die Werkstätten der Repasseuere und Finisseure führen. Sogar bei der Endkontrolle meiner revidierten Uhr könnte ich dem Uhrmacher über die Schulter sehen.
Abgemacht, sagte ich sofort, umgehend abgelenkt von meinen aktuellen Sorgen und in heller Vorfreude auf die kurze Reise ins Valée de Joux und die mechanischen Kunstwerke, die ich würde bestaunen können.
Wann passt es Ihnen?, fragte ich.
Ihre Uhr ist fertig, antwortete die Dame am anderen Ende der Leitung, nachdem sie sich beim Service erkundigt hatte: Unter der Woche können Sie jederzeit kommen. Aber bringen Sie Zeit mit. Nicht nur die Uhren sind hier sehenswert. Wenn Sie kommen, sollten Sie unbedingt auch die Landschaft genießen. Einen Spaziergang am Ufer des Lac de Joux mit Blick auf die umgebenden Hügelketten des Risoux und des Col du Mont d’Orzeires sollten Sie unbedingt einplanen.
Wir einigten uns auf den übernächsten Tag. Ich wollte raus, Abstand gewinnen, für mich sein und zu mir kommen, sobald es nur möglich war. Einen Tag aber würde ich schon brauchen, um die Reise vorzubereiten, Zugverbindungen herauszusuchen, die Tickets zu kaufen und ein Hotel zu buchen.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)