Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer. Und es fließt
das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.
Gottfried Benn, aus: „Das Jahrhundertwerk. Sämtliche Gedichte / Künstlerische Prosa“
© 2006 Klett-Cotta
••• Hier stimmt doch etwas nicht, dachte ich immer.
Ich trage dich wie eine Wunde
auf meiner Stirn, die sich nicht schließt.
Warum dieser scheinbar verbogene Satzbau, der Relativsatz folgend auf Stirn statt auf Wunde, um die es doch wohl geht? Warum heisst es nicht etwa:
Ich trage dich auf meiner Stirn
wie eine Wunde, die sich nicht mehr schließt.
Das bedeutet eine Änderung am Versmass. Der Melodie des Textes schadet dies jedoch nicht. Doch Moment – in der Frage liegt womöglich schon die Antwort. Was schmerzt? Woraus fliesst das Herz sich nicht tot? Ist es die Wunde, oder ist es die Stirn? Die Mutter oder das Ich? Der Text lässt beide Varianten zu und die Entscheidung offen.
So gibt es keine Anklage oder Selbstanklage in diesem Text. Beide, Mutter und Sohn, halten den Konflikt lebendig. So wenig, wie die Wunde sich schliessen mag, will das Ich aufgeben, die offene Stirn auszustellen. Da das Ich aber berichtet und – sei es auch nur durch einen widerborstigen Satzbau – erkennen lässt, dass die Natur des Konflikts durchschaut ist, besteht Hoffnung.
Das Ich ist eigentlich schon dabei, sich aus der Umklammerung zu lösen. Es ist sehend geworden. Überstanden allerdings ist es noch nicht, denn …
… manchmal plötzlich bin ich blind und spüre
Blut im Munde.
Am 27. März 2007 um 10:28 Uhr
[…] denke natürlich unwillkürlich an das Mutter-Gedicht von Gottfried Benn. Doch welch ein Unterschied zwischen beiden Gedichten! Während das Ich bei […]
Am 3. Mai 2007 um 13:57 Uhr
Ich hätte es auch so geschrieben, denk ich, ich meine nicht so, aber mit dem gedanken oder dem Gefühl zu seiner Mutter.
Gibt es ein hunderprozentiges schmerzfreies gefühl zu seiner Mutter, zumal wenn sie gestorben ist… ich verstehe Benn
Am 27. Juni 2012 um 11:28 Uhr
[…] to your mother – bemerkte Jarkko trocken, und das brachte mich auf Gottfried Benns Gedicht »Mutter«. Ich konnte es auf Deutsch zitieren, aber vor einer Übersetzung ins Englische bin ich dann doch […]