Unentdeckte Täterschaft

18. Juli 2008

Wenn mir wirklich jemand am Zeug flicken will und mir den Koffer untergejubelt hat, ist es allemal besser, ihn zu öffnen und mir Gewissheit zu verschaffen. Zurückgeben kann ich ihn ohnehin nicht mehr. Die Fluggesellschaft meint, beweisen zu können, ich selbst hätte ihn in Tel Aviv am Checkin-Schalter aufgegeben. Der Adressanhänger, der nun wirklich aussieht, als hätte ich selbst ihn beschriftet, spricht auch nicht gerade für meine Version, ihn noch nie zuvor gesehen, geschweige denn selbst gepackt zu haben. Und wäre das alles auch nicht der Fall, wäre es doch heute – Monate, nachdem der Kurier mir den Koffer zugestellt und mein Nachbar Molina den Empfang quittiert hat – ganz sicher für jede Reklamation zu spät.

Dennoch zögere ich, ihn zu öffnen. Eben noch habe ich mich nicht entsinnen können, warum ich damals meine erste Stelle als Redakteur gekündigt hatte, ja, ob ich überhaupt selbst gekündigt hatte oder gekündigt wurde. Es ist mir einfach entfallen. Und nicht nur das. Auch alle Ereignisse und Empfindungen, die zur Beendigung meiner Laufbahn als Journalist geführt oder doch zumindest beigetragen haben müssen, sind aus meinem Gedächtnis wie ausradiert. Normal ist das nicht. Die Vorstellung, dass dies nicht die einzige empfindliche Erinnerungslücke sein könnte, macht mir Angst. Was, wenn ich lediglich so gründlich wie nur irgend möglich vergessen habe, dass ich selbst diesen Koffer in Israel gekauft, gepackt und beschriftet habe und ihn eigenhändig durch die Sicherheitskontrollen am Ben-Gurion-Airport trug?

Es ist eine Sache, sich an Jahre zurückliegende Ereignisse nicht mehr zu erinnern. Und ich räume ein, dass es ungewöhnlich erscheinen muss, wesentliche Tatbestände um eine doch offenbar bedeutsame Weichenstellung in meinem Leben nicht mehr zu erinnern. Dass ich mich jedoch wenige Tage nur nach meiner Rückkehr aus Israel nicht mehr daran erinnern sollte, eigens einen Koffer gekauft zu haben, um darin etwas zu verstauen, an das ich mich ebenso wenig erinnern kann – das nenne ich gespenstisch.

Ich könnte mir selbst nicht mehr trauen. Wo war ich wann gewesen? Was hatte ich wann getan und warum? Womöglich suchte bereits der Shabak nach mir, weil ich im Heiligen Land eine Leiche zurückgelassen hatte; und lediglich mein schlechtes Gewissen, mündend in eine Art traumatisch bedingter Amnesie, verhinderte, dass ich mir meines Verbrechens bewusst wurde.

Den Koffer unbesehen im Müll verschwinden zu lassen, ist also ebenso wenig eine Option wie, ihn wieder an die Fluggesellschaft zu übergeben. Auf diese Weise würde ich nie Gewissheit bekommen, die Wahrheit nie erfahren und so fortan Tag für Tag mit der Befürchtung leben müssen, womöglich ein Mörder zu sein, dessen Täterschaft lediglich noch unentdeckt geblieben ist.

aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)

10 Reaktionen zu “Unentdeckte Täterschaft”

  1. La Tortuga

    Jetzt ist der Koffer immer noch zu! Dabei hatte ich mir die neuen Kapitel aufgespart, um meine Neugiertoleranz zu trainieren. Himmel!

    Dafür hab ich wieder was gelernt (gegoogelt), nämlich was der Shabak ist. Beim Lesen habe ich mir eine Art Gespenst vorgestellt, sowas wie die arabischen Ifrite, Dschinns und all die Fauna. :-)

    (Und die Wechsler-Mutter möchte ich schütteln.)

  2. Benjamin Stein

    Wenn ich es schaffe, lese ich das erste Wechsler-Kapitel am Sonntag ein und stelle es zum Anhören hierher. Ich kann Dir versichern: Der Inhalt des Koffers hatte es in sich. Und Wechsler hat ein echtes Problem.

  3. La Tortuga

    Oh, gern, sieh zu, dass Du es schaffst! Nur noch 2x schlafen bis der Koffer aufgeht, juchuuu!

    (Ja, dass mit Wechsler was nicht stimmt, drängt sich zunehmend auf. Wenn man sich nicht erinnern kann, ob man gekündigt hat und dergleichen … iihh!)

  4. Benjamin Stein

    Dass er sich daran nicht mehr erinnert, ist, so scheint es am Ende dieses Kapitels, wohl das geringere Problem. Stay tuned!

  5. La Tortuga

    Mir graut. Der Wechsler beschert mir nun auch ein nicht geringes Problem. Und Dir wärs zuzutrauen (nein, ich weiss es!), dass Du am Sonntag nur die Klippe erhöhst und uns, die wir mit letzter Kraft daran hängen, noch zweidrei weitere Finger löst.

  6. ksklein

    Wenn ich es schaffe, lese ich das erste Wechsler-Kapitel am Sonntag ein und stelle es zum Anhören hierher.

    Ja, ham ma denn schon Weihnachten?

    (hihihi)

  7. La Tortuga

    Also nein, bis Weihnachten warte ich nicht!! Da würde ich vorher selbst zum unentdeckten Täter.

  8. La Tortuga

    Hurra, hurra, in weniger als 2,5 Stunden ist Sonntag!!

  9. Benjamin Stein

    Ich fange dann mal an zu lesen… – Vielleicht sollte man mal überlegen, ob und wie man es technisch hinbekommen kann, solche Lesungen live via Internet zu machen.

  10. La Tortuga

    Ja, das wär heiss – man könnte richtiggehend Erzählabende veranstalten. Per Skype wärs ja möglich, allerdings kann man damit keinen ganzen Lesesaal erzeugen. Das kommt sicher noch.

Einen Kommentar schreiben

XHTML: Folgende Tags sind verwendbar: <a href="" title=""> <abbr title=""> <acronym title=""> <b> <blockquote cite=""> <cite> <code> <del datetime=""> <em> <i> <q cite=""> <s> <strike> <strong>