Der zweite Pilotenkoffer, den ich nachweislich besessen habe, war ein Geschenk meiner Mutter anlässlich der Gründung meines Verlages.
Du wirst ja nun wieder viel fliegen müssen, meinte sie, als sie mir das Geschenk überreichte, eher besorgt als begeistert.
Ich weiß nicht, aus welchen Quellen meine Mutter ihre Informationen über den gewöhnlichen Alltag eines Verlegers bezog. Welchen Jet-Setter auch immer sie da vor Augen gehabt haben mochte, um den Inhaber eines literarischen Kleinverlages kann es sich unmöglich gehandelt haben. Aber mütterliche Fürsorge hat bekanntlich nicht nur eine unendliche Halbwertzeit; sich gegen sie aufzulehnen, ist darüber hinaus so vergeblich wie ein Kampf mit Naturgewalten. Sachliche Argumentation führt höchstens zu Komplikationen. Immerhin geht es in einem solchen Fall um hehre mütterliche Gefühle, die man besser nicht durch kleinliche Einwände verletzt.
Wow!, der ist wirklich schön, sagte ich. Ich hatte – weißt du noch? – einmal einen ganz ähnlichen.
Natürlich weiß ich das. Aber du kannst dir ja nichts halten. Der ist doch sicher schon völlig heruntergewirtschaftet. Du musst jetzt wirklich mehr auf dein Erscheinungsbild achten. Mit einem völlig abgewetzten Koffer kannst Du unmöglich reisen. Was soll man von dir denken? So eine Schlamperei, das wird doch alles gleich auf Deine Bücher übertragen und auf die Autoren. Da bist du im Nu erledigt und erledigst die armen Autoren gleich mit. Du bist verantwortlich. Du kannst jetzt nicht mehr nur an dich denken.
Ich bin bald vierzig, verheiratet, Vater von zwei Kindern, aber offenbar in den Augen meiner Mutter bis zur Asozialität egozentrisch und vollständig verantwortungslos. Und ein Schlomp. Und überhaupt.
Der Zoll, Mama, hat den Koffer ruiniert, versuchte ich zaghaft einzuwenden.
Ausreden, mein Lieber, die kannst du dir auch abschminken. Bei Büchern, da ist alles schwarz auf weiß und ewig. Da muss es wahrhaftig zugehen. Denke nur an die Presse!
Da habe ich den Faden verloren. Wahrhaftigkeit und Presse, Bücher und Ewigkeit – das bekam ich nicht zusammen. Aber jegliche weitere Erwiderung hätte mich ohnehin nur noch weiter in die Defensive gebracht. Argumentativ ist eine solche Situation nicht aufzulösen. Es muss wohl anlässlich eines ähnlichen Wortwechsels mit meiner Mutter gewesen sein, dass ich irgendwann doch begonnen hatte, meinen jahrelangen Übergangsaufenthalt in München ohne jedes Bedauern als Dauerzustand zu akzeptieren.
Was nun allerdings das Geschenk meiner Mutter betrifft, behielt sie ganz Recht. Lange hielt er nicht. Einige Monate stand er unbenutzt auf dem Dachboden, und ich verstaute ihn schließlich nur ein einziges Mal im Handgepäckfach eines Flugzeuges, und zwar auf einer Urlaubsreise nach Spanien.
Ich hatte – und das beschreibt meinen Alltag schon eher – einen Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte mit in den Urlaub an der Costa Blanca genommen. Beim Einstellen der Kombination für das Zahlenschloss muss mir in der Eile der letzten Urlaubsvorbereitungen ein Fehler unterlaufen sein. Im Ferienappartement angekommen, ließen sich die Schlösser nicht mehr öffnen. Nach etwa einer halben Stunde strategischen, aber vergeblichen Probierens überlegte ich noch kurz; dann opferte ich den Koffer.
Die Manuskripte las ich am Pool oder überflog sie unterm Sonnenschirm am Strand. Ich schrieb eine Handvoll bedauernder, im Übrigen jedoch penibel neutral gehaltener Absagebriefe und ließ den Koffer mit den aufgebrochenen Schlössern samt sorgsam zerkleinertem Inhalt in Spanien zurück.
Auf dem Heimflug – ich gebe es freiheraus zu – fühlte ich mich erleichtert. Das habe ich nie jemandem erzählt. Ich glaube allerdings auch nicht, dass es mir irgendwer übelgenommen hätte. Meine Mutter? Die Autoren? Das kann ich mir kaum vorstellen. Dass der Koffer dran glauben musste, war ein Versehen. Mit der Entsorgung der abgelehnten Manuskripte habe ich sicher kein Verbrechen begangen. Und Koffer nehmen – im Gegensatz zu Frauen – keine Rache wegen erlittener Lieblosigkeit.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)
Am 4. Juli 2013 um 18:06 Uhr
Lieber Herr Stein,
könnten Sie mir sagen, woher das Wort „Schlomp“ stammt und was es genau bedeuten soll. Besten Dank im Voraus!
Am 9. Juli 2013 um 19:56 Uhr
Das ist eine jiddische Substantivierung von schlampig, im Sinne von unordentlich. In Berlin würde man wohl dafür sagen: Schlampersack. In Bayern darf man das nicht, weil da schlampig nur im Sinne von Schlampe verstanden wird.