Wahr ist, dass ich bereits zweimal in meinem bisherigen Leben einen ganz ähnlichen Koffer besessen habe. Den einen legte ich mir zu, kurz nachdem ich meine erste feste Stelle als Redakteur bei einer Monatszeitschrift angenommen hatte. Das ist unterdessen gute fünfzehn Jahre her; aber ich erinnere mich noch genau an den Kauf.
Es war mein erster Einkauf in München, wohin ich eben jener Stelle wegen von Berlin gezogen war – vorübergehend, versteht sich, wie ich mir damals sagte, denn als Berliner zieht man nicht nach München; man ist höchstens vorübergehend dort, quasi zu Besuch. Und wenn man sagt, dass man nach Hause fährt, dann meint man auch nach mehreren Jahren des Übergangszustandes immer noch Berlin, selbst wenn man die dortige Wohnung aus Kostengründen – ausschließlich jenen – aufgegeben hat und das Wochenende im Hotel oder bei Freunden verbringt.
Ich hatte damals weder Auto noch Führerschein, und da ich lange Bahnfahrten noch nie mochte, musste ich fliegen. Von meinem Redakteursgehalt konnte ich mir eine solche Kurzreise über ein verlängertes Wochenende zwar nur einmal im Monat leisten, aber diese Lösung hatte den unbestreitbaren Vorteil eines hohen Komforts.
Was ich unbedingt brauchte, war nun ein Koffer mit den maximal zugelassenen Dimensionen für Handgepäck, der zwar viel fasste, jedoch nicht aufgegeben werden musste, so dass mir am Zielflughafen das leidige Warten am Gepäckband erspart blieb.
Die monatlichen Reisen nach Hause waren jedoch nicht der einzige Grund für die Anschaffung meines ersten Pilotenkoffers. Mein Job brachte es mit sich, dass ich mindestens einmal pro Monat für ein oder zwei Tage oder manchmal auch eine ganze Woche verreisen musste, ebenfalls per Flugzeug, denn die Konferenzen und Presseveranstaltungen, an denen ich teilnahm, um über sie oder die vorgestellten Produkte zu berichten, fanden regelmäßig in allen möglichen Großstädten Europas und der USA statt.
Ich war ein Geek, fasziniert von allen erdenklichen Arten elektronischer Gerätschaften, und da ich für eine Computerzeitschrift arbeitete, konnte es nicht ausbleiben, dass ich jeweils mit dem letzten Schrei an Laptops, elektronischen Organizern und Mobiltelefonen ausgestattet war. (Ich wurde nicht ausgestattet. Ich stattete mich selbst aus, was trotz stattlicher Presserabatte regelmäßig dazu führte, dass es am Monatsende für den Heimflug nicht mehr reichte und ich, statt nach Berlin zu fliegen, das verlängerte Wochenende nach Redaktionsschluss in meiner Münchner Übergangswohnung mit dem Studieren von Gebrauchsanleitungen und dem Überspielen von Daten auf meine jeweilige Neuanschaffung verbrachte.)
Bei der geradezu emotionalen Bindung an diese technischen Geräte und der beachtlichen Investitionssumme, die diese verschlangen, hätte ich nie im Leben auch nur erwogen, mein mobiles Büro den Händen rüder Flugzeugpacker zu überlassen. Ich konnte sie nicht aus der Hand geben und riskieren, dass sie beschädigt würden. Ganz zu schweigen von dem Risiko, dass sie bei Anschlussflügen beim Umladen vergessen oder falsch umgeladen werden konnten, so dass sie irgendwo auf der Welt hätten verloren gehen können. Ein solches Risiko wäre ich nie eingegangen.
Einen Pilotenkoffer anzuschaffen, der es mir für wenige Tage erlaubte, quer durch die Welt allein mit einem Handgepäckstück zu reisen, war mir daher wichtiger, als etwas zu essen im Haus zu haben. Und so nutzte ich eine der ersten Mittagspausen als Redakteur für den Kauf eben jenes ersten Pilotenkoffers, der dem, der heute – noch immer verschlossen – neben meinem Schreibtisch steht, verblüffend ähnelt.
Er ähnelt ihm, aber er ist es nicht. Denn mein Koffer damals nahm ein vergleichbares Ende wie jener, der sich heute, eben wie ein Holzsplitter in meiner Fußsohle, nicht mehr ignorieren lässt. Auch mein damaliger Koffer ging prompt verloren, als ich ein einziges Mal leichtsinnig gewesen war und ihn aus einer plötzlichen Lust auf Bequemlichkeit heraus doch beim Checkin für einen Flug von Los Angeles via Atlanta nach München aufgegeben hatte.
Ich bekam ihn zurück. Ein Kurier der Fluggesellschaft brachte mir – wenn auch erst nach zwei endlos langen Wochen der Ungewissheit – das wieder gefundene Gepäckstück bis an die Wohnungstür, ganz wie vor Monaten nun jenen Koffer hier, der heute all diese Erinnerungen in mir wachruft. Der Zoll hatte den Koffer geöffnet, die Zahlenschlösser waren unversehrt, doch die Wand an einer der Stirnseiten, aus fester, mit Leder überzogener Pappe, ausgerissen. Es fehlte nichts, und der Inhalt des Koffers war unbeschädigt, nichts von meinem Gepäck verloren gegangen. Der Koffer selbst allerdings war hin.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)
Am 16. Juli 2008 um 00:11 Uhr
[…] […] Der Koffer selbst allerdings war hin. […]