gift of tongues – © by *rorshach13
Aus den Tagen sind Wochen geworden und schließlich Monate. Noch immer steht jener Koffer in meinem Büro. Ich habe ihn nicht geöffnet. Er steht direkt neben meinem Schreibtisch, so dass mein Blick unweigerlich auf ihn fällt, wenn ich einmal aufschaue von meiner fiktionalisierenden Arbeit, den Blick von Bildschirm und Tastatur löse und zur Seite schweifen lasse. Ich denke mittlerweile, dass ich hoffe, dieser Koffer möge irgendwann auf magische Weise aufgehen in seiner Umgebung, eins werden mit dem Schreibtisch, verschwinden zwischen den Büchertürmen und unsichtbar werden wie so vieles, das Tag für Tag um uns ist, zur Gewohnheit wird und so nach und nach ganz aus unserem Blickfeld verschwindet, einfach nicht mehr wahrgenommen wird.
Aber diese Hoffnung, das denke ich auch, ist wohl in diesem Fall vergeblich.
Dieser Koffer, das lässt sich mittlerweile nicht mehr leugnen, ist so etwas wie ein Stachel in meinem Fleisch, ein Splitter, den man sich einreißt, während man verträumt über einen alten Bootssteg läuft. Ein kleiner Stich ist das, der einen aber doch aufschreckt und aus den Gedanken reißt, was in meinem Fall so viel bedeutet wie, aus der Routine des Träumens gerissen zu werden.
Ich bin Verleger und – was mit Sicherheit um einiges schlimmer ist – Autor. Viele Stunden am Tag – manche behaupten gar: ohne jegliche Unterbrechung – bin ich mit Geschichten konfrontiert und beschäftigt, mit Biographien, Vorfällen, unerhört oder alltäglich, in jedem Fall aber Material, lauter Fetzen Realität, die samt und sonders verdienen, liebevoll fiktionalisiert zu werden. Oder die bereits fiktionalisiert sind. Niemand wüsste besser als ich, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in jeder Erzählung und erst recht in jedem geschriebenen Text mäandernd in den Leerräumen zwischen den Worten verläuft; mehr noch: mitunter verläuft sie zwischen den Buchstaben und zerteilt ein Wort in zwei sehr widersprüchliche Hälften.
Schreiben Sie doch einmal das Wort „Wirklichkeit“. Wer könnte sagen, ob es ein Synonym ist für Realität oder nicht vielleicht doch vielmehr für all das, was wirkt – ein sehr subjektives Bild, das mehr vom Auge des Betrachters abhängt als vom Gegenstand, der wahrgenommen wird.
Und jener Koffer, der mir vor nun schon Monaten zugestellt wurde, als wäre es mein eigener, dieser Koffer, so viel ist klar, hat unbefugt eine Grenze überschritten. Er dürfte nicht hier sein, dürfte nicht neben meinem Schreibtisch stehen, mich nicht, wann immer unvermeidlich mein Blick auf ihn fällt, daran erinnern, dass hier etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Er ist der Holzsplitter, der nie aus dem Brett des Bootsstegs hätte herausstehen dürfen, es aber tat und sich beim Darüberlaufen in die schutzlos nackte Fußsohle bohrte.
Der Schmerz ist erträglich, nicht der Rede wert, wäre da nicht die Notwendigkeit, den Splitter wieder herauszuziehen, damit die winzige Wunde sich nicht entzündet, und wäre da nicht die kaum zu leugnende Angst vor dieser kleinen, unbedeutenden Operation, jenen sich unerträglich dehnenden Augenblicken, wenn man dasitzt und mit Pinzette und desinfizierter Nadel versucht, das winzige Stückchen Holz wieder aus dem Fleisch zu bekommen.
Dass dieser Koffer hier neben meinem Schreibtisch steht, versehen mit einem Adressanhänger, der in meiner Handschrift ausgefüllt ist, dass er hier steht, obwohl ich noch immer felsenfest der Überzeugung bin, dass er mir nicht gehört und nie gehört hat – das alles ist keine große Sache. Dass ich mich aber davor fürchte, ihn zu öffnen und zu erfahren, was sich darin befindet, das allerdings ist alles andere als unbedeutend.
aus: „Die Leinwand“ (Jan Wechsler)
© Benjamin Stein (2008)
Am 14. Juli 2008 um 18:30 Uhr
Das halte ich wirklich nicht noch länger aus. Ich schleiche mich jetzt in das Büro und mache diesen Koffer auf!!
Am 14. Juli 2008 um 19:35 Uhr
ja ich komme mit,,,,ich glaube eh er ist leer,,,aber dann haben wir wenigstens gewissheit….vielleicht sind aber formulare drinn, die wir dann die ganze nacht hindurch ausfüllen müssen…..also ich nehme vielleicht doch noch flossen und taucherbrille mit…zur tarnung
Am 14. Juli 2008 um 19:41 Uhr
Nie und nimmer ist der leer. Mindestens ein verrotteter Apfel muss drin sein. Vielleicht stinkt der Koffer bald dermassen, dass er ihn öffnen MUSS, weil der José sonst klingelt und fragt, ob jemand unbemerkt gestorben sei.
Ich vermute aber etwas Gförchiges – der Mann hat doch wohl nicht umsonst Angst. Vielleicht ist es zwar nicht sein Koffer, aber durchaus sein Inhalt.
Ach… Öffnen wir ihn einfach, lieber eine kleine Ohnmacht (oder einen ausgewachsenen Schock) als diese nagende Neugier.
Am 14. Juli 2008 um 19:57 Uhr
Sie kennen José Molina nicht. Er ist ein dermaßener Gentleman, dass er nie im Leben nachfragen würde, wäre der Gestank noch so stark. Denn man stelle sich nur vor, es wäre keine Leiche, sondern ein Berg von Socken (getragenen) oder Käseecken (still reifenden), und die Nachfrage könnte mich kränken. Nein, der Antrieb müsste schon aus mir selbst heraus kommen.
Wenn ich allerdings für einen Augenblick zum allwissenden Erzähler wechseln darf (den es in der Leinwand nicht gibt): Sie könnten enttäuscht sein nach all dieser Spannung. Ein Schatz ist wohl sicher in diesem Koffer, aber einer von sehr relativem Wert.
Am 14. Juli 2008 um 20:04 Uhr
Ich verwette meinen linken Daumen darauf, dass das eine Finte ist.
Und den Herrn Molina möchte ich gern zum Abendessen einladen.
Am 14. Juli 2008 um 20:09 Uhr
Ihr Daumen ist in großer Gefahr! Und: Herr Molina ist bekannter- und bekennendermaßen homosexuell, sollten Sie etwa Ambitionen haben, und darüber hinaus in festen (liebevollen) Händen. Allerdings, und da gebe ich Ihnen recht, ist er mit Sicherheit für jede Abendgesellschaft ein Gewinn.
Am 14. Juli 2008 um 21:14 Uhr
Der Koffer IST ein Problem (in Wahrheit ist meine Nase in Gefahr!).
Ja, sowas macht mich ganz stigelisinnig. Ich hab da ein Jugendtrauma: es hing einmal eine weisse Plastiktüte an einem Baum. Ich (ca. 8) rannte los, um hineinzuschauen. Mein Vater hielt mich am Arm fest und sagte, ich dürfe das nicht tun, weil ich sonst eine schwarze Nase kriegen und somit später nie einen Mann finden würde. Ich liess mich einschüchtern und wurde die Tüte nie wieder los, bis heute nicht. Jahre später zog ich x-mal mit dem Rad los, um den Baum wiederzufinden, erfolglos. Ich schwor mir, dass ich immer der Neugier folgen werde, noch vor der Liebe – eine schwarze Nase und kein Mann wäre 1000fach erträglicher als nicht zu wissen. — So ein Koffer macht mich also waaaahnsinnig (und wenn der Molina für Frauen nicht zu haben ist: na das kann ich verkraften).
Am 14. Juli 2008 um 21:20 Uhr
Ein bißchen muss ich Dich dennoch weiter zappeln lassen. So eine Koffereröffnung will schließlich wohl erwogen sein. Und dieses Wohl-Erwägen müsste ich eben noch niederschreiben, wenn das Kopfweh nicht so uninspirierend…
Am 14. Juli 2008 um 21:31 Uhr
So langsam kommt mir der Verdacht, dass Du selbst noch nicht weisst, was im Koffer ist.
Und natürlich gute Besserung! (… Ich meine das wirklich, aber nicht ausschliesslich uneigennützig. :-) )
Am 14. Juli 2008 um 21:44 Uhr
[…] LaTortuga vermutet, ich wüsste nicht, was sich in besagtem Koffer befindet. O doch, denn er ist, wie man leicht […]
Am 14. Juli 2008 um 23:04 Uhr
@Lea: Der Koffer ist nicht leer… eher schwer!
@Benjamin: Berg von Socken (getragenen), Käseecken (still reifenden)… dazu sage ich mal gaaaaaaaar nichts. hihihi
Am 15. Juli 2008 um 08:40 Uhr
Nun ja, da nun in so vielen obig aufgeführten zeilen so viel gearbeitet wurde, bezüglich des inhalts des koffers, haben wir nun eine tüte dazu und eine weiteres kapitel zur erforschung von leerem schwerem naseeinschwärzendem gefüllsel. ich dachte nun an einen bienenschwarm, eventuell sollte ab und an geguckt werden ob der koffer sich trotz der schwere leicht hebt, oder er irgendwelche geräusche von sich gibt. so ein gejammer vielleicht. Oder es sind ganz einfach ungeöffnete liebesbriefe,,,ja das kann es auch geben in einem büro,,,,geschäftigter geschäftsmann vergisst sie…….