Bist du verwundet, fürchte dich nicht, mich zu rufen. Ruf mich, wo immer du bist, selbst aus dem Bett der Schande. Ich werde herbeieilen, wäre auch der Boden bis zu deiner Türe mit Dornen bestreut.
Ich will nicht, daß irgendeiner, nicht einmal Gott, dir das Kissen unter dem Haupt richte.
Auf meinen Leib achte ich nur, damit ich dein Grab schützen kann vor Regen und Schnee. Meine Hand wird auf deinen Augen ruhen. Die schreckliche Nacht sollen sie nicht erblicken.
Gabriela Mistral, aus: „Desolación“
Übertragung: Albert Theile
© der Übertragung Luchterhand 1958
••• Von meiner Freude über die besondere, antiquarisch bei Amazon aufgestöberte Quasimodo-Ausgabe habe ich ja schon berichtet. Nicht weniger gefreut hat es mich, dass ich nun auch den für Gabriela Mistral anlässlich der Nobelpreisverleihung zusammengestellten Sonderband finden und kaufen konnte. (Es gibt übrigens noch ein paar Exemplare für ganze 2½ €!)
Aus der dort abgedruckten Verleihungsrede, gehalten von Hjalmar Gullberg am 10. 12. 1945, erfuhr ich Details über die so berühmt gewordene tragische Liebe zu Romelio, die mir neu waren und die ein besonderes, anderes Licht auch auf die Texte werfen:
1906 lernte sie Romelio Ureta, einen jungen Eisenbahnangestellten, kennen. Damit begann das Drama einer Liebe, das ihre ganze Jugend überschattete. Es wird behauptet, Lucila Godoy [Gabriela Mistrals Geburtsname] habe Romelio Ureta nur zwei- oder dreimal in ihrem Leben gesehen und die ganze, in ihren Gedichten von „Desolación“ geschilderte Liebesgeschichte sei von einer phantasievollen Traumseele nur erdacht. Immerhin spricht einiges für das tatsächliche Erlebnis: Begegnungen, Briefe, ein Bruch. Einem chilenischen Schriftsteller erzählte sie selbst: „Unsere Liebe war echt. Doch dann, an einem schicksalsträchtigen Tag, haben wir uns getrennt. Ich benahm mich damals übel; wir schrien und stritten beide im Zimmer so laut, daß sich meine Mutter einmengte und Romelio hinauswarf. Die Zeit verging, und meine Angehörigen meinten schon, ich hätte ihn vergessen. Fünf Jahre nach unserem Zerwürfnis flüchteten wir buchstäblich voreinander. Wir haßten uns, dabei lebten wir unter demselben Dach; er bewohnte einen Raum im oberen Stock, und mein Zimmer lag direkt unter dem seinen… Er wußte, daß ich um neun in die Schule ging, und verließ deshalb das Haus um halb neun Uhr. Er war gar nichts Besonderes, ein Mann mit einem schön geformten Kopf, doch fast häßlichen Gesichtszügen. In diesen fünf Jahren trafen wir uns ein einziges Mal bei einem Reitausflug. Auf dem Heimweg lud er mich zu sich ein, aber ich lehnte ab. Zuletzt führte er einen liederlichen Lebenswandel, trieb sich mit Frauen herum und vergeudete dabei sein Geld. Seine elegant aufgemachte Verlobte, deren Familie auf großem Fuß lebte, beutete ihn ohne die geringsten Gewissensbisse aus. Schließlich verbrauchte er mehr, als er verdiente, und mußte sich aufs Stehlen verlegen. Eines Tages trafen wir in einer abgelegenen Straße aufeinander, nachdem wir uns viele Jahre aus dem Weg gegangen waren. Er kam auf mich zu und begleitete mich plaudernd. ‚Wann heiraten Sie?‘, fragte ich ihn. ‚Wie? Glauben Sie etwa, ich könnte mich mit dieser Frau verheiraten?‘ ‚Nein, nie!‘, gab ich ihm zur Antwort. Tatsächlich, nie im Traum konnte ich mir vorstellen, daß er sie jemals hätte heiraten können! ‚Und was fangen Sie mit ihrem Leben an?‘ ‚Mein Leben ist nichts wert, fragen Sie mich nicht danach, Sie wären entsetzt.‘ Vierzehn Tage danach jagte er sich eine Kugel durch den Kopf. In der Innentasche seines Mantels steckte eine der zwei Karten, die ich ihm geschrieben hatte.“
So lag der Bruch schon Jahre zurück, als Romelio starb! Aber, sagt Elie Wiesel: Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass. Man stelle sich diese Situation vor: Da ist nichts wirklich beendet oder verheilt; und direkt unter der Kammer des wertlosen Geliebten, nun Gehaßten wird die junge Dichterin Zeuge des „liederlichen Lebens“. Man muss keine empfindsame Seele sein, um hier eine verzehrende Eifersucht zu fühlen, wie sie in Desolación in einigen Gedichten aufflackert!
Mit dem Wissen um die Karte in der Innentasche seines Mantels fliegt der jungen Frau nach dem Tod Romelios dann auch noch das Schuldgefühl zu. Hatte sie den Ruf überhört; oder hatte er nicht gerufen? Es war zu spät für Versöhnungen, Liebesbeteuerungen, eine erfüllte Liebe.
Die auf das Trauma folgende, geradezu ins Psychotische übersteigerte Hinwendung bereitet mir beim heutigen Lesen ein Unbehagen. Aber unsere Leiden sind ja auch etwas, das wir uns, wie die Liebe selbst, nicht aussuchen. Oder etwa doch?