Zentauren – © Kerstin S. Klein (2008)
Kein Galopp jetzt mehr. Jetzt ist alles gut.
Jetzt sind wir wie alle anderen. Niemand wundert sich mehr über uns. Vorbei die Zeit, wo man uns als absonderlich bezeichnete — weil wir niemals an den Strand gingen, weil Tita, meine Frau, immer Hosen trug. Absonderlich, wir? Nein. Vergangene Woche kam der Geisterbeschwörer Peri zu Tita, und der ist allerdings ein absonderlicher Mann — ein kleiner, schlanker Indiomischling mit spärlichem Bartwuchs, behängt mit Ketten und Ringen, in der Hand einen Stab und von geheimnisvoller Sprache. Es mag ja ungewöhnlich scheinen, daß ein so seltsames Wesen zu uns kommt; aber schließlich kann jeder an der Tür klingeln. Und außerdem — absonderlich gekleidet war er, nicht wir. Wir? Nein. Wir sind von ganz normalem Aussehen.
© Moacyr Scliar (1980, 1985)
Übertragung: Karin von Schweder-Schreiner
••• Im Urlaub habe ich ein Buch erneut gelesen, das ich noch zu DDR-Zeiten gekauft und zum ersten Mal gelesen haben muss: „Der Zentaur im Garten“ von Moacyr Scliar.
Halb Mensch, halb Pferd, kommt Guedali, Sohn jüdischer Einwanderer in Brasilien, auf die Welt. Seine Geburt stellt die ratlosen Eltern vor durchaus nicht alltägliche Fragen. Womit ernährt man ein mythologisches Fabelwesen? Wie lässt sich an ihm die Beschneidungszeremonie vollziehen? Vertragen sich Tierleib und der zarte Torso des Kindes?
Ich erinnerte mich – so glaubte ich zumindest – noch sehr gut an die Geschichte und dass ich sie mit grossen Vergnügen gelesen hatte. Beim Wiederlesen sprang auch der Funke erneut über; ich erkannte die Figuren und Handlungsstränge wieder. Doch dann – als es mir gerade zu unglaubwürdig werden wollte, ja vielleicht sogar ein wenig langweilig – in genau diesem Augenblick schlug Scliar einen literarischen Haken, der alles zuvor Erzählte in der Perspektive verschob. So erzählt der Autor auf den letzten 10 Seiten des Romans den Roman erneut, nur ganz anders eben. Diese letzten Seiten las ich im Flugzeug auf dem Rückweg aus Israel. Und die Freude über diesen grandiosen Schluss war die Ursache, warum ich mit breitem Grinsen aus dem Flugzeug gestiegen bin…