Damit wir uns recht verstehen: Ich bin überzeugt davon, dass jede Autobiographie das Resultat fiktionalisierender Prozesse ist. Wir alle arbeiten ununterbrochen an unseren Erinnerungen, modifizieren, reevaluieren, korrigieren sie. Wo nötig, ergänzen wir sie, fügen sie zu einem Ganzen zusammen: Das bin ich. Doch in der Regel wirken Wirklichkeit und das, was wir von ihr und über sie wahrnehmen, als sanftes Korrektiv auf diese Prozesse ein: Überleg dir das noch mal. So kann’s ja nicht gewesen sein.
Markus A. Hediger
••• Mit großem Interesse und anhaltender Freude lese ich auf der „Veranda Perkampus“ die Kolumnen von Markus A. Hediger. Ich verstehe in ihnen den Autor durchaus als so etwas wie eine literarische Figur, die in einer – wenn auch entfernten – Verwandtschaft zu Amnon Zichroni steht. Hedigers Rückkehr nach Brasilien, das Land seiner Kindheit, führt ihn an das Thema Erinnerung heran, um das viele seiner neueren Kolumnen kreisen
Obiges Zitat kommt mir bekannt vor. Indem Markus hier Zichroni paraphrasiert, spielt er mir eine Inspiration zu. Da ist zum einen das Thema der durch reales Wiederbegegnen auf die Probe gestellten Erinnerung. Zum anderen das Thema gewissermaßen demontierter Identität durch Erinnerung, die Revisionsprozessen unterzogen wird.
Dabei kommt Markus auf einen sehr wesentlichen Punkt:
Opposition ist ein erbärmlicher Geschichtenerzähler. Wo die Sehnsucht die Sprache zumindest noch in eine sprachliche Freiheit verführt, versteift sich Opposition auf eine Haltung. Die Argumente sind bald ausgearbeitet und in die Schlacht geführt. Was folgt, ist ein vergeblicher, langweiliger Krieg, in dem sich zwei bekriegen, nur weil jeder eine andere Sprache spricht.
Der bessere – vielleicht einzig mögliche – Geschichtenerzähler, so will es mir scheinen, ist: Zuneigung, um nicht zu sagen – Liebe.
Mit diesem Gedanken durchforste ich die geplante Geschichte der „Leinwand“ noch einmal und komme auf spannende mögliche neue Wendungen.
Was die Opposition angeht: Es gibt ja auch so etwas wie Lust an der Opposition. Das Nachdenken über die Lust daran und das Erzählen darüber könnte vielleicht die tieferen Einblicke geben als das Erzählen über die Opposition und ihre Beweggründe an sich.
Am 10. März 2008 um 09:12 Uhr
Oder Neugierde.
(Und anstatt „Opposition“ hätte ich wohl besser „Hass“ geschrieben. Lust an der Opposition gibt es, ja, aber wenn man in der Lage ist, diese zu empfinden, dann ist man über den Hass hinweg. Lust befreit und ermöglicht das Spiel – welches die Opposition dann wieder zu einem Objekt der Neugierde macht: Neugierde erkundet.)
Danke auch für diese aufmerksame Bemerkung:
Das stimmt natürlich. Das „Ich“ meiner Kolumnen IST eine verkünstlichte Figur. Allein schon die Form der Kolumnen literarisiert mich, erzeugt eine Distanz zwischen mir und „Mir“. Nur als literarische Figur kann ich über die Dinge schreiben, die mich zum Teil fürchterlich umtreiben.
Am 10. März 2008 um 12:35 Uhr
Tatsächlich? Da fällt mir natürlich Elie Wiesel ein:
Und damit kommen wir noch näher an meine kleine These. Denn Hass ist doch intensivste emotionale Bindung. Was ich eigentlich meinte: Diese emotionale Bindung zu erzählen (und dazu müsste man erst aus der Verstrickung gelöst sein) – das scheint mir hoch spannend.
Am 10. März 2008 um 12:44 Uhr
Du musst genau sein, Benjamin: Ich benutzte in meiner Kolumne Opposition als Antrieb für meinen Krieg gegen die Freikirchler. Und in diesem Sinn erwähnte ich Hass auch als Ersatz für den von mir verwendeten Begriff. Dass Hass ein wunderbares erzählerisches Motiv IN einer Geschichte hergeben kann – das habe ich nie bezweifelt. Aber aus Hass heraus eine Geschichte zu schreiben ist meines Erachtens keine Quelle für gute Literatur.
Und – ich habe Hass nicht als Gegenteil von Liebe genannt. Wenn überhaupt, dann als Gegenteil von Neugierde.
Am 10. März 2008 um 16:19 Uhr
Ach, Markus, dass es uns immer wieder gelingt, aneinander vorbei zu schreiben.
Ich versuche nochmals eine Erklärung. Die Bemerkung, etwas sei ein guter Geschichtenerzähler, habe ich so gelesen, dass sich aus diesem heraus – Hass bspw. – gut erzählen liesse. Das glaube ich nun in der Tat nicht, weil ich Hass für eine Art emotionaler Verstrickung halte, aus der heraus schwerlich Konstruktives – eine erzählte Geschichte bspw. – entsteht.
Also ganz deutlich: Hasst die Figur – wunderbar; hasst der Autor, hat es die Geschichte eher schwer. Das ist meine ganz private Einschätzung, versteht sich.
Als Motiv freilich ist Hass sicher wunderbar geeignet.
Wenn Du nun vom Hass gegenüber den Freikirchen sprichst – oder verstehe ich das immer noch miss? – dann frage ich schon mit persönlichem Erstaunen: Dein Hass oder der Hass der Figur?
Am 10. März 2008 um 21:04 Uhr
Ach, Benjamin, du hast ja recht.
Und damit das von meiner Seite auch geklärt wird:
Genau so sehe ich das auch.
Hier aber:
wird es schon ein bisschen komplizierter mit einer klaren Antwort. Denn in den Kolumnen schreibt ein literarisiertes Ich, daher wäre sein Hass auf die Freikirchen für den Text ein wahrer Glücksfall. Nun ist dieses literarisierte Ich nur deshalb literarisiert, weil ich (als Autor dieses literarischen Ichs) über einige Dinge sonst gar nicht schreiben könnte. Ich, der Autor, mag Freikirchen nicht – für den Text ist das nicht gut. Das literarische Ich der Texte mag sie auch nicht – gut für den Text. = Ein Dilemma.
Am 10. März 2008 um 21:14 Uhr
Nun, die positiven Aspekte scheinen die negativen deutlich aufzuwiegen. Ansonsten wären die Kolumnen nicht, wie sie sind :-)