Schlucht bei Baltschik

4. März 2008

Keine Zeit braucht den Dichter so sehr wie diejenige, die ihn entbehren zu können glaubt.

Jean Paul

Poesiealbum 277 - Peter Huchel••• Gestern früh bin ich doch zur Ärztin. Die wollte mich für eine Woche ins Bett stecken. Sowas hört ein Freiberufler nun gar nicht gern. Ich wollte sie auf einen Tag runterhandeln. Gut, ich mach zwei draus und bleibe auch morgen noch im Bett. Das gibt mir nun wenigstens Gelegenheit, die Eingänge der letzten Wochen zu sichten. Da ist viel liegen geblieben, weil ich jede freie Minute am Text der „Leinwand“ saß.

Eingetroffen sind zum Beispiel die ersten beiden Hefte des Poesiealbum, das – wie schon früher berichtet – vom Märkischen Verlag Wilhelmshorst seit kurzem wieder herausgegeben wird. Die Aufmachung ist identisch mit jener der früheren 276 Ausgaben. Nur die Erscheinungsweise ist vorerst noch nicht wieder monatlich. Quartalsweise erscheinen die Hefte nun. Aber das ist immerhin ein erfreulicher Neuanfang.

Das erste Heft der wiederauferstandenen Reihe beschert mir gleich eine Entdeckung. Vielmehr konnte ich eine empfindliche Lücke schließen. Ich kann mich nicht erinnern, früher schon einmal etwas von Peter Huchel gelesen zu haben. Ich meine, mich an einen Essay erinnern zu können, der vor einiger Zeit in „Sinn und Form“ erschien und an den jahrzehntelangen Herausgeber dieses Urgesteins unter den deutschen Literaturzeitschriften erinnerte. (Aber auch da bin ich mir nicht sicher.) Lyrik von Huchel – und das war schließlich seine Domäne – kannte ich bisher nicht.

Die Auswahl der Gedichte geht auf jene Auswahl zurück, die Poesiealbum-Herausgeber Bernd Jentzsch bereits 1977 für eine Poesiealbum-Ausgabe getroffen hatte. Peter Huchel hatte damals die DDR bereits verlassen. Im Jahr 1962 war er endgültig zum Rücktritt von seinem Posten als Chefredakteur der „Sinn und Form“ gezwungen worden. Neun Jahre später – nach Jahren der Isolation in Wilhelmshorst – hatte er sich zum Gehen entschlossen.

Dass ich – geboren 1970 in der DDR – von ihm nichts hörte, war also kein Wunder. Bernd Jentzschs Huchel-Poesiealbum durfte nicht erscheinen, Huchel-Gedichtbände schon gar nicht.

Auf der Umschlagseite werden diverse Zeitgenossen Huchels mit frenetischem Beifall zu seiner Lyrik zitiert. Mir erscheint Huchel als Dichter mit großer Sprachgewalt. Seine Formsprache hingegen kommt mir bei der heutigen Erstbegegnung mitunter antiquiert vor. Zwischendurch aber finde ich immer wieder Zeilen, die mich wirklich bewundernd aufhorchen lassen.

Huchels Gedichte sind auf 488 Seiten in einer Suhrkamp-Taschenbuchausgabe erschienen, die man antiquarisch noch bekommen kann, jedoch zu atemberaubenden Preisen. Die Suhrkamp-Auswahl im Hardcover ist günstiger zu bekommen.

PS: Ich habe versehentlich die ersten beiden Neuerscheinungen des Poesiealbums doppelt bestellt. Wer Interesse hat an den Ausgaben 277 (Peter Huchel) oder 278 (Ernst Jandl) möge sich per Mail melden. Ich verschenke sie gern.

 

Schlucht bei Baltschik

Am Abend hängt der Mond
Hoch in die Pappel
Das silberne Zaumzeug der Zigeuner.
Er gräbt es aus,
Wo unter Steinen
Pferdeschädel
Und Trensen schimmern.

Eine Greisin
Die Stirn tätowiert,
Geht durch die Schlucht,
Am hanfenen Halfter
Ein Fohlen.
Sie blickt hinauf
Ins alte Zigeunersilber
Der Pappel.

Nachts hebt sie aus dem Feuer
Ein glimmendes Scheit.
Sie wirbelt es über den Kopf,
Sie schreit und schleudert
Ins Dunkel der Toten
Den rauchenden Brand.

Die Pappel steht fahl.
Die Schildkröte trägt
Mit sichelndem Gang
Den Tau in den Mais.

Peter Huchel (1903-1981)
aus: „Gesammelte Werke, Bd. 1, Die Gedichte“
© Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. Main, 1984

Eine Reaktion zu “Schlucht bei Baltschik”

  1. Die Bauern überliefern « Turmsegler

    […] Ein Nachtrag noch zum Poesiealbum 277 mit Gedichten von Peter Huchel. Das hier, fällt mir auf, wäre beinahe ein Sonett geworden. Beim ersten Lesen fielen mir […]

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