••• Heute kam ich mir vor wie ein Schreibschüler. Es gibt Augenblicke, da wünscht man sich die realistische Beschreibungskraft eines Ivan Bunin. Heute hätte ich sie gebraucht. Ob die Portion eigenes Talent hingereicht hat heute, da bin ich mir noch nicht sicher.
Zichronis Vater führt in Geula ein Geschäft für Taleisim. Dass wir ihn genau beobachten beim Knüpfen der Zizit, das ist bedeutsam für den Höhepunkt des Kapitels: eine wortlose Geste zwischen Vater und Sohn, die Zichroni so viel bedeutet, dass er sich nach Jahren noch daran erinnert. Diese Geste bliebe völlig unverständlich und somit bedeutungslos für den Leser, würde man ihn nicht zuvor eingeweiht haben in das Mysterium der Fäden, Windungen und Knoten…
[…] Man konnte mit Fug und Recht sagen, dass sich im Geschäft meines Vaters für jeden Geschmack und jeden Geldbeutel der passende Tallis finden ließ.
Die große Auswahl an Taleisim machte jedoch nur einen, wenn auch wichtigen, Teil des Reizes jenes Geschäftes aus. Der andere Teil bestand in dem speziellen Service, den mein Vater darüber hinaus anbot. So schön oder gar extravagant einzelne Modelle seines Angebots auch sein mochten, durfte man doch nicht vergessen, dass man einen Tallis tatsächlich nur aus einem Grund trug, nämlich um das heilige Gebot der Zizit zu erfüllen, jener geknüpften Schaufäden, die gemäß der Anweisung der Torah an den Ecken eines jeden viereckig geschnittenen Kleidungsstücks angebracht werden müssen. Man kann diese Mitzwah nur erfüllen, wenn man auch ein derart geschnittenes Kleidungsstück trägt. Da es aber nicht um das Kleidungsstück selbst, sondern tatsächlich um die Zizit ging, wenn man bei meinem Vater einen Tallis kaufte, war es mit der Auswahl des passenden Modells noch lange nicht getan.
Jeder Tallis war bereits mit Zizit ausgestattet. Der weitaus größte Teil der Kundschaft meines Vaters wäre jedoch nicht im Traum auf die Idee gekommen, diese Zizit auch zu verwenden. Das hatte verschiedene Gründe. Es spielte durchaus eine Rolle, woher die Zizit stammten, aus welcher Wolle sie gefertigt, wie lang und wie dick die einzelnen Fäden waren. Ja sogar, ob von der Schafschur, über das Spinnen bis hin zum fertigen Zizit-Faden allen Beteiligten im Herstellungsprozess bewusst gewesen war, dass sie zur Erfüllung einer Mitzwah beitrugen, war für viele Kunden im Geschäft meines Vaters von elementarer Bedeutung. Am wichtigsten war für jene Kunden jedoch, wie und durch wen die Zizit geknüpft wurden.
So hingen an der Wand hinter der Kasse unzählige Sorten von Zizit-Sets mit je sechzehn Wollfäden. Es gab sie in verschiedensten Längen, Qualitäten und Schattierungen von Weiß. Hatte ein Kunde sich die passende Sorte ausgesucht, übernahm es mein Vater, die maschinengeknüpften Zizit von dem gerade gekauften Tallis abzuschneiden und von Hand neue daran zu knüpfen.
Je nach Herkunft des Kunden mussten die Zizit für den Tallis des Kunden unterschiedlich geknüpft werden. Jedem Faden, jedem Knoten und jeder Windung kam dabei eine Bedeutung zu.
Für die Chassidim und die Mystiker musste mein Vater an jeder Ecke des Tallis ein zweites Loch in den Stoff stechen und dessen Ränder mit einigen Nadelstichen fixieren. War das erledigt, öffnete er das neu gekaufte Zizit-Set und prüfte jeden einzelnen der sechzehn Fäden. Er vergewisserte sich, dass vier der Fäden um etwa ein Drittel länger waren als die übrigen des Sets und legte sie über seine Schultern. Dann erst begann die eigentliche Prozedur.
Die Ecken des Tallis wurden übereinander gelegt und in einer an der Tischkante befestigten Holzklammer fixiert. Dann nahm er drei kürzere und einen der langen Fäden.
Er legte die einen vier Enden der Wollfäden zusammen und zog sie glatt. Dann fädelte er sie in das oder eben jene zwei Löcher in der Ecke des Tallis und zog sie bis zur Hälfte ihrer Länge hindurch. Dieses Ende der Fäden klemmte er mit einer Wäscheklammer fest, die er sonst tagsüber, wenn er sie gerade nicht zum Zizit-Binden brauchte, am Revers seines Kaftans trug.
Er ließ eine Schlaufe bis etwa einen halben Zentimeter über den Rand der Ecke und band die Fäden, die nun in zwei Viererpaaren vor ihm lagen, mit einem ersten Doppelknoten zusammen, so dass er nun acht Fäden vor sich liegen hatte – sieben in gleicher Länge und einen, der zum Knüpfen benötigt wurde, um einige Zentimeter länger. Dieser längere Faden musste im Uhrzeigersinn um die zusammengehaltenen übrigen sieben Fäden gewickelt werden und zwar in einer engen Spirale, so dass jede Windung gut sichtbar war.
Nach einer bestimmten Anzahl Windungen wurden die Fäden wieder in zwei Paare zu je vier Fäden geteilt, und ein zweiter Doppelknoten folgte, darauf eine weitere Sektion mit Windungen und einem Doppelknoten und so fort, bis man vier gewundene Strecken und insgesamt fünf Doppelknoten bekam. Hatte man sauber geknüpft, war am Ende die überschüssige Länge des achten Fadens genau für die Windungen verbraucht, so dass die Enden aller acht Fäden nun die gleiche Länge hatten.
Die tiefere Bedeutung der Zizit, der Art und Anzahl der Windungen und Knoten hatte mir mein Vater schon erklärt, als ich noch ein Junge gewesen war. Sie alle standen als Symbole für Worte und verbanden jene Worte und ihre Bedeutung untrennbar miteinander.
Die Zizit sollen uns erinnern an die 613 Gebote und Verbote der Torah. Die Übersetzung jener Bedeutung in geknüpfte Fransen an den Ecken des Tallis geschieht mittels Zahlen und einer mystischen Verbindungsübung zwischen Worten, Zahlen und Deutung – der Gematria.
Hebräische Buchstaben bezeichnen nicht nur einen Laut, sondern auch eine Zahl. Die ersten zehn Buchstaben des Alphabets von Aleph bis Teth stehen für die Zahlen eins bis neun, die weiteren von Yud bis Zadeh für die Zehner von zehn bis neunzig und schließlich die letzten vier Buchstaben Kuf, Resh, Shin und Tav, für die Hunderter von einhundert bis vierhundert.
Addiert man die Buchstabenwerte des Wortes Zizit, ergibt sich aus neunzig, zehn, neunzig, zehn und vierhundert eine Summe von sechshundert. Acht Fäden werden mit fünf Knoten geknüpft, was zusammen 613 ergibt.
Bei der Anzahl der Windungen, die eine codierte Antwort darauf geben, warum wir die Gesetze halten, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die Sfardim knüpfen zehn, fünf, sechs, fünf Windungen. Die Zahlen entsprechen den vier Buchstaben im Namen des Ewigen.
Die Ashkenazim hingegen winden den Faden erst sieben-, dann acht-, elf- und dreizehnmal. Die ersten beiden Sektionen stehen für das erste Buchstabenpaar des heiligen Namens, die dritte Sektion für das zweite. Die vierte Sektion schließlich hat den gleichen Zahlenwert wie echod – einzig – so dass die Kombination der Windungen für Hashem echod – der Ewige ist einzig – steht.
Ich bin sicher, dass es noch weitere Varianten von Knoten und Windungen gibt, geheime jedoch, von wirklichen Mystikern im Verborgenen getragen. Doch solche würden sich ihre Zizit nicht einmal von meinem Vater knüpfen lassen.
Ich hatte es immer geliebt, meinen Vater bei seiner Arbeit zu beobachten. Er war unglaublich geschickt und geübt. Er hätte wahrscheinlich auch im Schlaf Zizit binden können. Was mir immer gefiel an dieser Arbeit, war die Vorstellung, dass durch wenige Handgriffe und eine Deutung ganz einfache Dinge, wie Wollfäden und Knoten beispielsweise, mit tiefer Bedeutung erfüllt wurden, die sie zu etwas Besonderem machte. Mir gefiel die Ehrfurcht vor einem einzelnen Buchstaben, einem Knoten oder auch einer Zahl, einer Ehrfurcht aus nur einem Grund: weil sie die kleinsten Bestandteile eines großen Werkes waren, das Ha-Kadosh baruch-hu durch seinen Willen und durch Worte geschaffen hatte.
© Benjamin Stein (2008)
PS: Wenn ich versagt habe oder jemand prüfen will, ob er/sie sich die richtige Vorstellung vom Zizit-Knüpfen gemacht hat: »»hier ist eine bebilderte Anleitung für den ashkenasischen Stil, den ich heute trage. … Weil es diese Geste meines Vaters gegeben hat an jenem brütend heissen Augusttag in Geula. (Das hätte Zichroni gesagt, zum Schluss gewissermaßen.)