Abendlicht

29. Januar 2007

Caspar David Friedrich - Das Grosse Gehege bei Dresden

••• Stephan Hermlins „Abendlicht“ habe ich 1980 von meiner Mutter oder meiner Großmutter geschenkt bekommen. Ein Buch zur Unzeit für mich. Ich war gerade einmal zehn Jahre alt. Nichts vom Erzählten ist mir in Erinnerung geblieben. Aber der tiefe Eindruck der Poesie dieses Buches hat sich im Gedächtnis festgesetzt.

Ich habe im Laufe der Zeit so manches Buch gelesen, von dem ich nichts oder nur wenig verstanden habe. Das machte mir gar nichts. Ich konnte immer eintauchen in die Sprache, ihrem Klang nachlauschen, ihrem Rhythmus folgen, mich in den Assoziationen verlieren, die einzelne Worte oder Wendungen in mir entzündeten.

Die Bücher hinterliessen eine Stimmung, eine Atmosphäre, Klänge und Sprachsplitter, an die ich mich noch lange erinnern konnte und noch immer erinnere. So habe ich Friederike Mayröcker gelesen, deren Prosa zu einer solchen Art des Lesens geradezu einlädt. So las ich damals aber auch das „Abendlicht“.

Es funktioniert immer noch. Seit ich das Buch vor einigen Tagen aus dem Regal gesucht habe, kann ich mich nicht davon lösen. Der gleiche Zauber, doch heute fesselt mich auch das Erzählte. Und ich finde – es gibt ja keine Zufälle – heute im „Abendlicht“ einen Abschnitt, der von einer ähnlichen Erfahrung mit dem Lesen berichtet…

 

AbendlichtVon frühen Leseerlebnissen sind mir zwei, aus gänzlich verschiedenen Gründen, merkwürdig geworden. Das erste bezieht sich auf ein Buch oder einige Bücher, das oder die ich in der Tat ganz früh, also zwischen dem sechsten und achten Lebensjahr, las. Ich denke an „Tausendundeine Nacht“, daneben schieben sich aber Andersens „Bilderbuch ohne Bilder“ und der „Lederstrumpf“. Daß die Grenzen, die Ränder dieser ganz unterschiedlichen Werke undeutlich werden, daß sie ineinander überzugehen versuchen, muß damit zusammenhängen, daß dargestellte Personen und Handlungen nicht so sehr wichtig waren für mich, sondern vielmehr eine vorgestellte Landschaft, eine Tageszeit, eine Aura, in denen sich Personen bewegten, ihre Handlungen vollbrachten.

Unterstützt wurde die Neigung, Atmosphärisches über das eigentlich Berichtete zu stellen oder, wie man auch sagen könnte, in einem gegebenen Text einen zweiten, anderen zu lesen, durch beigegebene Illustrationen, deren Urheber ich vergessen, wenn ich sie überhaupt je gekannt habe. In meiner Ausgabe der Grimmschen Märchen, die ich ständig las, befand sich das Bild eines ansteigenden Wiesenhanges, über dem ein blaßblauer, mit weißen Wolken betupfter Himmel stand. Über diesen Wiesenhang stiegen, an ihm lagerten die Märchenfiguren in einer Lautlosigkeit, nach der ich mich sehnte. Als Erwachsener kam ich in einige orientalische Städte (Bagdad war nicht unter ihnen) – überall suchte ich nach den Gassen, den Basaren, in denen langsam ein heiteres und unheimliches Leben verging. Seit ich zum erstenmal „Tausendundeine Nacht“ gelesen hatte, drang immer die gleiche rubinene Glut aus der Nacht der Basare, lief der gleiche kleine Wasserverkäufer durch die schweren Schlagschatten, stand die gleiche unsichtbare Sonne an einem tiefblauen Himmel über der Morgenkühle in den Häuserschluchten. Umgeben von Armut und Verfall und dem Einbruch einer widerwärtigen Technik stand ich lange neben den Märchenerzählern an den Straßenecken. Ihre Sprache verstand ich nicht; nur in den Augen ihrer zerlumpten Zuhörer lebten die Bilder und Gestalten meiner Kindheit. Lange suchte ich nach einem Licht, das ich einmal deutlich gesehen hatte. Ich habe es nicht gefunden.

Mit dreizehn Jahren las ich zufällig das „Kommunistische Manifest“; es hatte später Folgen. Mich bestach daran der große poetische Stil, dann die Schlüssigkeit des Gesagten. Zu den Folgen gehörte, daß ich es mehrmals las, im Laufe der Jahre sicher zwei dutzendmal. In drei Ländern hörte ich bei meinem Lehrer Hermann Duncker Vorlesungen über das Manifest; Duncker, der das Werk vom ersten bis zum letzten Wort hätte auswendig hersagen können, gehört zu jenen nicht mehr Lebenden, die noch mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen über marxistische Theorie sprachen. Das berühmte Werk führte mich zu schwierigeren, umfangreicheren Schriften der marxistischen Literatur, aber ich kehrte immer wieder auch zu ihm zurück. Längst schon glaubte ich, es genau zu kennen, als ich, es war etwa in meinem fünfzigsten Lebensjahr, eine unheimliche Entdeckung machte. Unter den Sätzen, die für mich seit langem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: „An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.“ Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem damaligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagt: „… worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“

Mir war klar, daß ich auch hier gewissermaßen in einem Text einen anderen Text gelesen hatte, meine eigenen Vorstellungen, meine eigene Unreife; daß aber, was dort erlaubt, ja geboten sein konnte, weil das Wort auf andere Worte, auf Unausgesprochenes hinwies, hier absurd war, weil in meinem Kopf eine Erkenntnis, eine Prophetie auf dem Kopf stand. Dennoch mische sich in mein Entsetzen Erleichterung. Plötzlich war eine Schrift vor meinem Auge erschienen, die ich lang erwartet, auf die ich gehofft hatte.

Stephan Hermlin, aus: „Abendlicht“
© Verlag Phlipp Reclam jun. Leipzig 1979

3 Reaktionen zu “Abendlicht”

  1. Manifeste « Turmsegler

    […] kann Manifeste nicht leiden. Notwendig absolut im Postulieren des Wahren, vereinfachen sie das Komplexe auf […]

  2. Der Stachel der Romantik « Turmsegler

    […] 1970er, Anfang der 1980er Jahre auf – die Romantik. Ich erinnerte mich spontan an Hermlins »Abendlicht« und Christa Wolfs »Kein Ort. Nirgends«. Und tatsächlich, bestätigt mir Decker, […]

  3. Überm Rauschen « Turmsegler

    […] Sinn, die einem den Zugang nicht eben leicht machen. Ich dachte an Woolfs »Wellen«, an Hermlins »Abendlicht« und Mayröckers »Reise durch die Nacht«. Aber gelegentlich kann so etwas auch ganz anders […]

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