Geboren wurde ich in Meah Shearim, Yerushalayim, einem der Epizentren jüdischer Gottesfürchtigkeit. Ich war der erste Sohn nach drei Töchtern und ganze fünfeinhalb Jahre jünger als meine älteste Schwester. Dies war in unserer Nachbarschaft alles andere als ungewöhnlich. Einzig das Alter meiner Eltern hätte als auffällig gelten können, denn sie waren bereits ein gutes Stück über dreissig. Dafür konnte es an einem Ort wie diesem nur drei Erklärungen geben. Entweder waren sie Sitzengebliebene, weil irgendetwas in den jeweiligen Familien nicht ganz koscher gewesen war: ein unheilvolles Walten des Bösen Blicks beispielsweise, Synonym für lebensbedrohliche Melancholie, oder aber unbezähmbare Teives, die, Gott behüte, ein Mitglied der Familie vom einzig wahren Weg der Torah abgebracht hatten. Als zweite Möglichkeit kam in Betracht, dass es nicht ihre erste Ehe war. Und die dritte mögliche Erklärung, nämlich dass ihre jüdischen Wurzeln nicht bis unmittelbar an den Fuss des Berges Sinai zurückreichten, hätte einen kaum geringeren Makel bedeutet.
In einer Gesellschaft strengster Normen genügt ein minimales Abweichen vom zu Erwartenden, um beargwöhnt zu werden. Und vielleicht lag es daran, dass ich oft das Gefühl hatte, meine Eltern würden immer ein wenig mehr tun, als nötig schien, immer ein wenig bereitwilliger als andere der streng vorgezeichneten Linie der Erwartungen unserer näheren Umgebung folgen – um, wenn schon nicht anerkannt, so doch zumindest voll und ganz akzeptiert zu sein.
Inmitten Meah Shearims muss ihnen dies schwer gefallen sein. Dass nach drei Töchtern nun endlich ein Sohn auf die Welt kam, war für sie, das glaube ich fest, eine doppelte Freude, denn es bedeutete, dass wir umziehen mussten. Die Wohnung war, gemessen an den Verhältnissen in unserem Viertel, durchaus nicht klein. Es gab drei Zimmer. Im einen waren die Mädchen untergebracht. Das zweite war meinen Eltern vorbehalten und abgeschlossen. Im dritten, dem grössten, war nicht viel mehr Platz als für einen Geschirrschrank, ein Regal mit der Raschi- und der Gemara-Ausgabe, einen grossen, ausklappbaren Esstisch und gerade genügend Stühle für jedes Familienmitglied und ein, zwei Gäste. Hier spielte sich das Familienleben ab, denn die Küchen – es gab sogar zwei, fleischig und milchig, rechts und links vom Gang direkt neben dem Eingang – diese Küchen also waren so winzig, dass nur eben ein Spülbecken, ein Herd und eine schmale Arbeitsplatte darin Platz fanden, die man, wenn man zu zweit darin stehen wollte, an die Wand klappen musste.
Aber das alles war, wie gesagt, nicht ungewöhnlich in unserer Nachbarschaft; es war sogar ein wenig mehr, als die meisten anderen Familien hatten. Dennoch war meine Geburt ein willkommener Grund, eine neue Wohnung zu suchen, denn ich konnte unmöglich das Zimmer mit meinen Schwestern teilen; und das Zimmer meiner Eltern war tabu. Es blieb verschlossen. Selbst wenn sie mein Bett dort hätten aufstellen wollen, hätte diese Lösung doch nur von kurzer Dauer sein können, denn länger als ein, vielleicht zwei Jahre hätte man kein Kind im Zimmer der Eltern schlafen lassen.
© Benjamin Stein (2008)