••• Ich muss noch einmal auf Matthus‘ „Judith“ zurückkommen. Waren es in dem zuletzt vorgestellten Duett Holofernes/Judith vor allem die Szenenanordnung und die Überlagerung der Soli — also gewissermassen zwei geteilte Dialoge — die mich begeisterten, so hat das Libretto doch an anderen Stellen auch wirklich poetische Wucht. Mindestens drei Passagen würde ich gern zitieren. Doch ich muss mich auf eine beschränken. Und die Wahl fällt auf Judiths Monolog „Was sagst Du zu diesem Traum?“, der dem Holofernes/Judith-Duett unmittelbar vorangeht.
Du hast mich oft gesehen, daß ich plötzlich zu beten anfange. Man hat mich deswegen fromm und gottesfürchtig genannt. Wenn ich das tue, so geschiehts, weil ich mich vor meinen Gedanken nicht mehr zu retten weiß. Mein Gebet ist dann ein Untertauchen in Gott, es ist nur eine andere Art von Selbstmord, ich springe in den Ewigen hinein, wie Verzweifelnde in ein tiefes Wasser.
Nicht, dass ich diese Zeilen je vergessen hätte. Aber ich notiere sie mir als Motiv für „Mayim Rabim“, denn das „Untertauchen in Gott“ scheint mir verwandt mit dem Begriff bitul azmo, was so viel bedeutet wie Selbstverringerung, wenn nicht gar Zerstörung des Ego. Es ist ein wesentliches Motiv der Mussar-Literatur; und ich bin sicher, dass sich in anderen Religionen vergleichbare Ideen finden, nämlich das selbstsüchtige Ego zurückzudrängen mit dem Ziel, ein „reines Gefäss für den göttlichen Willen“ zu werden.
Es kann natürlich unterschiedlichste Gründe dafür geben, sich dieser Übung zu unterziehen…
Judith:
Was sagst Du zu diesem Traum?
Mirza:
Du träumst? Schau auf das Elend rings um dich und höre auf das, was ich dir sagte.
Judith:
Ich ging und ging, und wir wars ganz eilig, und doch wußt ich nicht, wohin michs trieb. […] Plötzlich stand ich auf einem hohen Berg, mir schwindelte. Da war ein Abgrund zu meinen Füßen, wenige Schritte vor mir, dunkel, unabsehlich, voll Rauch und Qualm. Und ich vermochte nicht zurückzugehn, noch stillzustehn, ich taumelte vorwärts: „Gott! Gott!“ rief ich in meiner Angst. Es tönte aus dem Abgrund herauf freundlich, süß, ich sprang, weiche Arme fingen mich auf, ich glaubte einem an der Brust zu ruhen, den ich nicht sah, und mir ward unsäglich wohl, aber ich war zu schwer, er konnte mich nicht halten, ich sank, sank, ich hörte ihn weinen, und glühende Tränen träufelte es auf meine Wange.
Mirza:
Warum hörst Du nicht, wenn ich Dir von Ephraim spreche?
Judith:
Weil michs vor Männern schaudert.
Mirza:
Und hast doch einen Mann gehabt.
Judith:
Er war es und war es nicht. Sechs Monate bis zu seinem Tode war ich Manasses Weib, er hat mich nie berührt. Etwas Dunkles, Unbekanntes stand zwischen uns. Er gab mir liebe Worte, ich streckte die Arme nach ihm aus, aber statt zu mir zu kommen, begann er leise zu beten. Mein Herz hörte auf zu schlagen, mir war, als ob ich einfröre in meinem Blut; ich wühlte in mich selbst hinein wie in etwas Fremdes. O, ich haßte und verabscheute mich. Sag, Mirza, muß ich nicht selbst wahnsinnig werden, wenn ich aufhöre, Manasse für wahnsinnig zu halten? Du hast mich oft gesehen, daß ich plötzlich zu beten anfange. Man hat mich deswegen fromm und gottesfürchtig genannt. Wenn ich das tue, so geschiehts, weil ich mich vor meinen Gedanken nicht mehr zu retten weiß. Mein Gebet ist dann ein Untertauchen in Gott, es ist nur eine andere Art von Selbstmord, ich springe in den Ewigen hinein, wie Verzweifelnde in ein tiefes Wasser.
Siegfried Matthus, aus dem Libretto zu “Judith”
Oper in zwei Akten nach dem gleichnamigen Drama von Friedrich Hebbel
und Texten aus den Psalmen sowie dem Hohelied Salomos
Ausschnitt aus dem 1. Akt von „Judith“ von Siegfried Matthus
Eva-Maria Bundschuh (Judith) / Christiane Röhr (Mirza)
Orchester der Komischen Oper Berlin
Am 5. Februar 2008 um 10:18 Uhr
In der zitierten Passage sehe ich nicht Selbstverringerung sondern Flucht vor sich selbst –
Das tönt verzweifelt, nicht gottesfürchtig oder wie man das benennen will. Der Vergleich zwischen Untertauchen in Gott und Selbstmord sagt m.E. alles.
Am 5. Februar 2008 um 10:32 Uhr
In Bezug auf die Verzweiflung? Aber ja, Judith ist verzweifelt! Meine Vermutung ist, dass das „Untertauchen in Gott“ häufiger, als man annehmen möchte, aus Verzweiflung geschieht. Es wäre dann ein Mord am Selbst, doch man bleibt am Leben. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich nichts mit Gottesfurcht zu tun hat. Es könnte sein, dass dieser Weg gewählt wird, weil man das Selbst, an dem man leidet, als göttliche Prüfung empfindet.
Auf diese Idee komme ich nicht von ungefähr, sondern gerade vor dem Hintergrund des Judith-Stoffes. Sie nämlich sieht in der Möglichkeit, die „heroische Tat“ zu tun, die Erklärung dafür, warum Gott sie sein lässt, wie sie ist. Sie ist in der Verzweiflung ausgesetzt, damit sie bereitwillig die Gelegenheit ergreift, durch die Tat ihrem ganzen So-Sein Sinn zu geben und sich so zu retten.
Mir kommen jetzt spontan die islamistischen Selbstmorattentäter in den Sinn, ohne dass ich das gerade zusammenknüpfen könnte, also klären, ob es da tatsächlich einen Zusammenhang, eine Parallele geben mag.
Am 5. Februar 2008 um 10:38 Uhr
Das mag in Bezug auf Judith richtig sein, sehe ich das jedoch als allgemeine „Anleitung“ oder Begründung, stellen sich mir die Nackenhaare auf: das eigene Elend als Berufung zu einer selbstlosen Tat zu sehen – da sind wir dann tatsächlich sehr schnell bei den Selbstmordattentätern. (Ich weiss, es geht dir hier nicht um eine allgemeine Aussage, sondern spezifisch um Judith.) Bin diesbezüglich ein gebranntes Kind: Wie religiös interpretiertes Leid zu einer fanatischen Verhärtung führen – das geht rasend schnell.
Am 5. Februar 2008 um 11:16 Uhr
Deswegen wohl meine spontane Assoziation zu den Selbstmordattentätern. Was „Mayim Rabim“ angeht, lasse ich die Gedanken aber eher der positiver anmutenden Variante von bitul azmo nachlaufen.
Eine weitere Assoziation, die mir gerade kommt, ist ein Film, den ich letztens mit der Herzdame gesehen habe: „Der freie Wille“. Jürgen Vogel spielt hier einen Triebtäter, der sich am Ende das Leben nimmt, als er einsieht, dass er seiner „Veranlagung“ nicht entkommt.