••• Es könnte also, meinen die Turmsegler-Leser, doch gehen… Also machen wir die Probe aufs Exempel und schauen uns den ersten Teil der Geschichte einmal an, die sich letzte Woche hier zugetragen hat und von der ich längst berichtet hätte, wären mir nicht die erwähnten Zweifel gekommen.
Für gewöhnlich öffnen wir am Schabbes nicht die Tür, wenn es läutet. Familie und Freunde, zumal jüdische, würden am Schabbes nicht klingeln. Sie wären angemeldet und würden, um die vereinbarte Zeit herum, auf der gegenüberliegenden Strassenseite warten, wo man sie vom Fenster aus sehen und nach unten gehen könnte, um sie ins Haus zu lassen.
Das hat der Ewige geschickt eingefädelt: Beim Essen und am Schabbes wird einem immer klar, dass man unter Fremden lebt, im Exil eben. Die katholischen Nachbarn hängen keine Wäsche auf am heiligen Sonntag, würden sich aber sicher nicht davon abhalten lassen, einen Brief zu schreiben oder nach der Messe mit dem Auto ins Grüne zu fahren. Die Studenten aus der WG eine Treppe tiefer haben von Gott, fürchte ich, nur eine ganz ungefähre Ahnung. In deutschen Grossstädten ist Gott nicht wirklich in Mode. Von einem, der solch ausgefeilte, einschränkende Forderungen an Menschen stellt wie Schabbes zu halten, von so einem will man hier heute lieber nichts Genaueres wissen.
Natürlich gibt es Ausnahmen, José Molina beispielsweise, ein leicht übergewichtiger, ungemein freundlicher Musiker, der mit seinem Freund in der Wohnung direkt neben uns wohnt. Wir haben nie gefragt, woher er ursprünglich stammt. Mir gefiel immer die Vorstellung, er sei Exil-Chilene. Das hat natürlich etwas mit seinem Namen zu tun, mit dem „Kuss der Spinnenfrau“ und seinem Akzent, der geographisch schwer einzuordnen ist. Wenn wir auch nicht wissen, woher Molina stammt, so wissen wir doch, dass er weit gereist ist und einige Jahre in New York verbracht hat. Er lebte in Brooklyn in einer vorwiegend jüdischen Gegend. Das haben wir erfahren, als wir ihn eines Freitags bitten mussten, unsere neue Waschmaschine für uns in Empfang zu nehmen, die eigentlich am frühen Vormittag hätte geliefert werden sollen, kurz vor Schabbeseingang aber noch immer nicht eingetroffen war. Molina kannte sich bestens aus. Er gab den Waschmaschinenträgern alle Anweisungen, unterschrieb den Lieferschein und liess den verspäteten Lieferanten sogar ein Trinkgeld zukommen. Bei all dem hatten wir ihm nichts erklären müssen. Er hatte nur gelacht und gemeint: Dass ich hier in Deutschland noch einmal als Schabbes-Goy nützlich sein kann, das hätte ich mir nicht träumen lassen.
Nachbarn wie José Molina sind nun aber hier sicher eine absolute Ausnahme. Will man hierzulande Schabbes haben, dann muss man sich eine Trutzburg bauen. Beim Schritt vor die Tür betritt man bereits ein religiöses Mienenfeld, ganz zu schweigen davon, wenn jemand von aussen hereintritt – indem er klingelt, am Schabbes, an unserer Tür beispielsweise.
Ich habe es meiner Frau zu verdanken, dass mich solche Situationen nicht mehr in die Enge treiben. Mach einfach nicht auf, sagte sie, als ich wieder einmal einen Postboten hatte abwimmeln müssen, weil ich weder das Paket entgegennehmen noch dessen Empfang hätte quittieren können. Erklären Sie sich mal in so einem Moment! Mich brachte das jeweils furchtbar ins Schleudern. Ich kam mir vor wie ein Idiot. Es war mir peinlich. Und obendrein schämte ich mich, dass es mir peinlich war. Peinlich, einem wildfremden Menschen zu erklären, was Schabbes ist, dass Schabbes ist und dass ich deswegen das Paket nicht annehmen, ihn aber auch nicht auffordern kann, es wieder mitzunehmen.
Wenn ich peinlich berührt bin, werde ich unfreundlich. Das ist ein Reflex. Und meine Unfreundlichkeit in solchen Momenten ist nun wieder meiner Frau unangenehm. Der Bote, meint sie, völlig zu Recht, kann schliesslich nichts dafür, dass wir ein bisschen anders sind.
Dann, schloss sie, mach einfach nicht auf. Dann gibt es kein Problem, und alle sind zufrieden. Und so blieb die Tür also fortan zu, wenn es am Schabbes klingelte. Sie wäre auch gestern verschlossen geblieben, hätte ich nicht in dem Moment, als es klingelte, mit meinen Kindern auf dem Flur herumgetollt, und zwar so laut, dass man das Bolzen und Kichern deutlich bis ins Treppenhaus hören konnte. Die Tür wäre geschlossen geblieben, hätte jener Mann, der da zu uns wollte, vor der Haustür und nicht bereits vor unserer Wohnung gestanden und also geklopft und gerufen, wir sollten doch öffnen.
Nicht zu öffnen, obwohl der Wartende draussen genau weiss, dass jemand da ist, das schien mir dann doch unhöflich. Und so öffnete ich die Tür.
© Benjamin Stein (2008)
Am 2. Februar 2008 um 20:19 Uhr
weiter! weiter! weiter!
(ich denke, bei so einem text ist alles klar. da gibt es keine verständnisschwierigkeiten. gefällt mir sehr gut und ich hoffe, wir müssen nicht 2 jahre auf das fertige buch warten! ;) )
Am 3. Februar 2008 um 06:22 Uhr
Ich bin von der Offenheit & Ehrlichkeit ihres Glaubens, als auch von Ihrer persönlichen Darstellung desselbigen sehr beeindruckt; ich lese nun schon seit längerem in Ihrem Blog und bin von ihren persönlichen Schilderungen sehr fasziniert, weil man nur wirklich verstehen kann, wenn einem auch die Möglichkeit dazu geboten wird.
Sie gestatten mir einen tiefen Einblick in ihre geheimnisvolle Welt, was ich schon deshalb als sehr Wertvoll betrachte, weil er scheinbar völlig unverfälscht und aus tiefstem Herzen kommt.
Verzeihung, ich bin zwar Atheist, doch dies hindert mich nicht daran theologische Gedanken zu spinnen & Grundprinzipien zu erforschen, da ich diese ähnlich die Philosophie als elementare Grundbausteine des sozialen Zusammenlebens in der Gemeinschaft betrachte. – Sie müssen nämlich wissen, dass zu meinen wenigen Interessen, die ich verfolge, unter anderem die Astronomie, Geschichte, Philosophie, Psychologie und die Religionswissenschaften gehören.
Der Jüdische Glaube erweckt deshalb mein besonderes Interesse, weil er mit zu den ältesten aller Religionen zählt, und sich trotz aller geschichtlichen Umwälzungen innerhalb von Jahrtausenden kaum verändert hat.
Am 3. Februar 2008 um 07:33 Uhr
[…] Vielleicht ist es ja für den einen oder anderen von Interesse, was geschah, nachdem ich die Tür geöffnet […]
Am 3. Februar 2008 um 08:14 Uhr
lieber benjamin, wenn diese beiden koffertexte so in den roman übernommen werden, weiss ich nicht, weshalb du dir irgendwelche sorgen machen solltest. die figur des josé molina ist – textstrategisch – brilliant. chapeau.
Am 3. Februar 2008 um 10:58 Uhr
@Markus
Du hast keine Vorstellung, um was ich mir alles Sorgen mache! Alle Bedenken kommen mir vor wie ein wahrer Hindernisparcours. Ich würde mir wünschen, ich könnte das alles beiseite wischen und einfach den Text herausfliessen lassen. Es gibt da wohl aber noch ein paar innere Hindernisse aus dem Weg zu räumen…
Dass José Molina hier grad zur rechten Zeit aufgetaucht ist, war allerdings eine schöne Fügung. Sowas geschieht halt immer wieder erst, wenn man die Szene geschehen lässt, statt nur darüber nachzudenken.
Am 13. Juli 2008 um 13:34 Uhr
[…] den Tagen sind Wochen geworden und schließlich Monate. Noch immer steht jener Koffer in meinem Büro. Ich habe ihn nicht geöffnet. Er steht direkt neben meinem Schreibtisch, […]