Für gewöhnlich öffnen wir am Schabbes* nicht die Tür, wenn es klingelt. Familie und Freunde, zumal jüdische, würden am Schabbes nicht klingeln. Sie wären angemeldet und würden, um die vereinbarte Zeit herum, auf der gegenüberliegenden Strassenseite warten, wo man sie vom Fenster aus sehen und nach unten gehen könnte, um sie ins Haus zu lassen.
••• Das ist nun sicher kein schlechter Kapitelanfang. Warum wird die Tür für gewöhnlich nicht geöffnet? Und warum – denn das impliziert das „für gewöhnlich“ – wurde sie an einem bestimmten Schabbes doch geöffnet? Und was geschah?
Nur leider geht das so nicht! Denn warum Familie und Freunde an diesem Tag nicht klingeln würden, das versteht der „uneingeweihte“ Leser nicht ohne die gigantische Fussnote. Und schon hat das alles nichts mehr mit Literatur zu tun.
Nun sollen die beiden Protagonisten in „Mayim Rabim“ aber einfach reden, als wären sie unter sich. Sie würden niemals aus dem Erzählen heraus in einen Vortrag wechseln. Wozu auch?
Wie ich dieses Problem lösen soll, ist mir unklar. Und das ist es auch, was mich im Moment an der Fortsetzung des Textes hindert. Was ich erzählen will, spielt in einer Welt, in der man am Schabbes keinen Klingelknopf drückt. Die Figuren wissen das, die Leser nicht. Und es gibt für die Figuren keinerlei Veranlassung, diesen Umstand zu erklären. Ein Abrücken von der „monologischen Methode“, also dem Erzählen aus dem Zentrum der Figur heraus, kommt nicht in frage. Es muss doch aber einen Weg geben, den Leser dennoch mit in diese Welt zu nehmen…
Aber wie? – Knifflige Sache.
*) Die Schabbes-Regularien sind Aussenstehenden in der Regel schwer zu vermitteln. Was unter die an diesem Tag verbotenen Tätigkeiten fällt, hat mit dem landläufigen Begriff der Arbeit wenig zu tun, auch wenn diese Tätigkeiten als Melachah bezeichnet werden und man hierzulande unter malochen wenn überhaupt etwas dann schweres körperliches Arbeiten versteht.
Verboten sind all jene Tätigkeiten, die beim Bau des Stiftszelts in der Wüste notwendig waren. Denn die Torah gibt uns, abgesehen vom Verbot, Feuer zu machen, wenig Hinweis darauf, was genau am Schabbes zu unterlassen sei. Nach der Aufforderung zum Bau des Stiftszelts jedoch und der Beschreibung aller anzufertigenden Gerätschaften wird uns mitgeteilt, dass der Bau des Heiligtums am Schabbes zu ruhen habe. Und daraus nun schliesst man, dass alle jene Arbeiten, die für die Errichtung desselben nötig waren, am Schabbes verboten sind.
Die erwähnten Tätigkeiten bilden jedoch nur die 39 Hauptkategorien mit Unterkategorien und einem Sack voll Kleinigkeiten. Zu den interessanten Kategorien zählt die des „letzten Hammerschlags“, symbolisch gesprochen für eine Tätigkeit, die einen Gegenstand oder eine Sache letzendlich brauchbar macht für ihren Zweck: das Aufziehen einer mechanischen Uhr beispielsweise, die stehengeblieben ist, oder auch das Schliessen eines elektrischen Stromkreises, wodurch die Glühlampe zu leuchten beginnt oder eine Türklingel schellt. Das Gegenteil, also eine Handlung, die einen Gegenstand unbrauchbar macht für seinen spezifischen Zweck, wäre als „Zerstörung“ ebenso wenig statthaft.
Am 1. Februar 2008 um 11:29 Uhr
Wieso soll dieser Anfang nicht funktionieren? Dem Leser muss nicht alles erklärt werden, er muss nicht alles wissen, um eine Geschichte verstehen oder nachvollziehen zu können. Nur weil die Geschichte in einer Welt spielt, die nicht mit der Leserwelt identisch ist (ist sie es je?), heisst das noch lange nicht, dass der Leser lektüretechnisch nicht mit ihr umzugehen wüsste. Mute dem Leser was zu.
Ich – ganz ehrlich – fand den Einstieg gelungen. Weshalb? Weil er mich neugierig macht.
(Was du zur Fussnote schreibst, dem stimme ich zu. Lass sie weg. Es braucht sie nicht.)
Am 1. Februar 2008 um 11:44 Uhr
Dass Fussnoten nicht gehen, steht ganz ausser Frage :-) Ich habe sie nur für den Beitrag zur Erklärung angefügt.
Ich möchte das hier erst einmal stehen lassen und schauen, was evtl. noch so für Meinungen dazu existieren. Mal sehen, was so in den Argumentenkorb geworfen wird.
Am 1. Februar 2008 um 11:57 Uhr
kleine ergänzung: aus dem zitierten textanfang wird der intelligente leser (und wie ich deine prosa kennengelernt habe, zielst du mit deinen texten ja nicht gerade auf eine hirnlose leserschaft) problemlos induzieren, dass es sich beim nichtöffnen der tür am Schabbes um eine religiöse Praxis handelt. diese muss der leser nicht verstehen, es sei denn, die in der fussnote angeführten erklärungen seien essentiell für das verständnis des plots. dann allerdings hättest du tatsächlich das problem, von dem du schreibst.
Am 1. Februar 2008 um 12:21 Uhr
Nein, die Gründe der religiösen Praxis sind nicht wichtig. Aber es geht ja weiter… Nehmen wir einmal an, an jenem bestimmten Schabbes wird die Tür doch geöffnet. Und – wie sollte es anders sein – vor der Tür steht ein Problem in Gestalt eines Kuriers, der etwas abliefern und den Empfang des Gegenstandes schriftlich quittiert haben möchte. Man kann ihm das nicht übel nehmen, er macht seine Arbeit, für ihn ist das die normalste Sache der Welt.
Der Ich-Erzähler und potentielle Empfänger des zu überbringenden Gegenstandes hat nun allerdings ein Problem: Er könnte den Gegenstand nur entgegennehmen, wenn der Kurier ihn – ohne dazu aufgefordert worden zu sein – über die Schwelle der Wohnung befördert. Darüber hinaus muss der Erzähler ihm verständlich machen, dass er zwar kein Analphabet sei, heute jedoch nicht unterschreiben könne.
Wir haben nur den Dialog zwischen Kurier und Erzähler zur Verfügung, und letzterer darf nur erzählen, wie er auch denkt.
Dergleichen fände ich nahezu so unliterarisch wie eine Fussnote. Der gewöhnliche Extremismus bei der Bewältigung solcher Probleme findet sich regelmässig in Filmdrehbüchern. Da kommt eine Person um die Ecke, und A sagt zu B. „Das ist Z, der b-jährige Zahnarzt, der letztens seine Praxis in der K-Strasse schliessen musste, weil seine Freundin, mit der er seine Frau sei 200g betrog, aus Eifersucht den Teppich im Flur angezündet hatte.“
Am 1. Februar 2008 um 12:25 Uhr
in diesem fall sehe ich es genauso. man nimmt einfach einen religiöse praxis an, du erzeugst damit sogar eine gewisse spannung.
allerdings habe ich schon öfters texte von dir gelesen, wo ich mir alle paar sätze gedanken um solche dinge machen musste. das hat mich dann zu sehr vom eigentlichen text abgelenkt und ist schade.
fussnoten würde ich auch nicht schreiben. vor allem nicht so lange. vielleicht kann man am ende des buches eine kurzfassung der religiösen praktiken aufführen?
Am 1. Februar 2008 um 12:27 Uhr
ausserdem finde ich den text so gut. schwieriger wird es wenn viele hebräische ausdrücke auftauchen.
Am 1. Februar 2008 um 12:28 Uhr
Oje, davon ist ja noch nicht einmal die Rede. Das ist wirklich schwierig, weil die Sprache von Zichroni sicher durchzogen ist von den üblichen (hebräischen) Redewendungen für „G’tt behüte“ oder „mit G’ttes Hilfe“ etc.
Ich meine, man darf so etwas nicht übersetzen, weil das eine Verfälschung ist. Denn gesprochen wurde der Satz eben in zwei Sprachen!
Am 1. Februar 2008 um 12:29 Uhr
ok. jetzt sehe ich das problem… ohne jegliche erklärung wäre die von dir beschriebene szene für einen outsider, für einen leser also, der das regelwerk nicht kennt, reichlich absurd – reizvoll zwar, aber wohl kaum von dir so intendiert.
(gäbe es die möglichkeit, in einem prolog einen „normalen“ schabbes zu beschreiben, oder die vorbereitungen dazu? da könnte viel erklärt werden, ohne dass es unliterarisch würde. mit ein bisschen geschick könntest du den plot des nachfolgenden romans da schon andeuten, handlungsstränge eröffnen etc.)
Am 1. Februar 2008 um 12:34 Uhr
Das würde ich ungern, weil das nur ein erzählerisches Vehikel wäre und eben nicht wesentlich für den Plot. Ausserdem geht das in diesem Fall nicht. Denn die Beschreibung eines normalen Schabbes für einen Aussenstehenden lässt ihn erfahren, was da alles so geschieht und getan wird. In der Szene geht es aber darum, was nicht getan werden kann.
Am 1. Februar 2008 um 12:35 Uhr
Dass es am Schabbes eine Art ‚Arbeitsverbot‘ gibt, gehört doch irgendwie zum ‚Allgemeinwissen‘, oder nicht? Das würde ich Lesern durchaus zumuten. Dass sich das dann auch aufs Türenöffnen erstreckt, hätte ich aus diesem ersten Absatz einfach herausgelesen und angenommen, ich glaube nicht, dass das größere Probleme macht.
Allerdings wird es später dann wirklich schwieriger, mit dem Boten, der Unterschrift etc… Und wenn man doch ein Gespräch einführt, an das sich der Erzähler hier erinnert? Dass er diese Dinge schon einmal einem Menschen mühsam zu erklären versuchte und dabei auch Beispiele brachte, was man alles nicht tun dürfe etc.? Zu konstruiert?
Übrigens finde ich den Absatz auch sehr gelungen, das erzeugt wirklich Spannung, das ‚für gewöhnlich‘ usw…
Am 1. Februar 2008 um 12:39 Uhr
Meiner bescheidenen Erfahrung nach ist das durchaus nicht der Fall.
Das ist der Beweis für den Titel dieses Beitrags! Es ist durchaus erlaubt, die Tür zu öffnen. Wenn jedoch jemand klingelt, was verboten ist, dann muss man annehmen, dass vor der Tür eine „Schabbesbombe“ wartet, z. B. ein Kurier…
Am 1. Februar 2008 um 12:44 Uhr
und es ist wirklich schwierig manche dinge mitzuteilen. es müsste zu viel erklärt werden. auch wenn der leser weiss, dass es am schabbat ein arbeitsverbot gibt. er wird nicht verstehen warum an dem tag nicht geschrieben werden darf, warum man bei regen keinen regenschirm tragen darf, warum man sich morgens keinen frischen kaffee aufbrühen darf,… das hat für den „normalen“ leser nichts mit einem arbeitsverbot zu tun.
hmmm…. vielleicht musst du doch 2 erzählungen schreiben… für die jüdischen leser und als interessanter vergleich dazu auf der anderen seit für die weniger „eingeweihten“ leser. oder du schreibst die erzählung aus der sicht von einer religiösen person und einer nicht-religiösen bzw. „unwissende person.
Am 1. Februar 2008 um 12:47 Uhr
@sprachspielerin:
türe öffnen ist erlaubt, aber man darf den buzzer nicht betätigen. das heisst man müsste ganz schnell ein paar stockwerke hinunter springen, nur um den boten mitzuteilen, man könne seinen lieferschein nicht unterschreiben. :)
Am 1. Februar 2008 um 12:49 Uhr
Neinnein, dass die Tür eben nur nicht geöffnet wird, wenn geklingelt wird, geht aus dem obigen Absatz schon hervor, sonst würde man ja auch den draußen wartenden Freunden nicht öffnen dürfen, das ist klar, das habe ich nur missverständlich formuliert.
Und ansonsten: ich denke schon, dass ein ‚Uneingeweihter‘ das dann so hinnimmt (und dabei jede Menge lernt), ohne die Erklärungen und Begründungen dazu geliefert zu bekommen (zumindest in diesem ersten Absatz). Das ist dann eben so.
Die von mir vorgeschlagene Erinnerung an ein Gespräch mit einem ‚Nichteingeweihten‘ passt nicht hinein?
Am 1. Februar 2008 um 12:50 Uhr
nur zur info:
nichtjüdische freunde und familie wissen auch schon bescheid, dass sie dann eben sturm klingeln müssen, damit wir eben doch die vielen stockwerke hinunterspringen und die türe für sie öffnen. und manche finden es dann ganz spannend sich bestimmte klingelzeichen oder melodien auszudenken, damit es klar ist, dass es nicht nur der postbote ist. ;)
Am 1. Februar 2008 um 12:50 Uhr
Das finde ich eine schöne Idee für eine Erzählung: Erst erzählt der Kurier von der Begegnung und anschliessend der potentielle Empfänger.
Ich brauche die Szene aber in „Mayim Rabim“ …
Am 1. Februar 2008 um 12:53 Uhr
Das unterschreibe ich. Ich würde vorschlagen, Benjamin, schreib die Szene mit dem Kurier einfach mal ganz ohne Erklärungen. Stell sie hier ein und wir können dann konkret über eventuell tatsächlich vorhandene Verständnisschwierigkeiten diskutieren – oder eben nicht. Ich vertraue im Zweifelsfall auf die Kraft eines Textes und auf den aufrichtigen Wunsch des Lesers, mit seiner Interpretation dem Text gerecht zu werden. Versuchs einfach mal.
Am 1. Februar 2008 um 12:56 Uhr
Das kann ich machen. Aber wir werden nicht unvoreingenommen darüber diskutieren können, weil die Fussnote schon oben steht und die kritischen Fakten hier auf den Tisch gelegt wurden :-))
Also, lassen wir es mal auf den Versuch ankommen. [Jetzt muss ich das tatsächlich auch noch aufschreiben!]
Am 1. Februar 2008 um 13:05 Uhr
Sollen wir Sonntag hier bleiben, damit Du Zeit zum Schreiben hast?
Am 1. Februar 2008 um 13:15 Uhr
Mal sehen. Im Moment kommt mir noch immer keine Variante in den Sinn, die auf Erklärungen verzichtet.
Da fällt mir ein: Ich finde den Adressanhänger nicht mehr, der an dem Koffer hing. Weisst Du vielleicht, wo der sein könnte? Den müsste ich schon fotografieren, quasi als Beweisstück…
Am 1. Februar 2008 um 13:20 Uhr
… der hängt noch! (BTW: Der Koffer ist auch noch nicht ausgepackt.)
Am 1. Februar 2008 um 14:19 Uhr
Er gehört mir ja auch nicht…
Okay. Nach Schabbes werde ich das alles aufschreiben und hier posten. Dann wissen alle, worum es geht. Und dann bekommen wir vielleicht auch raus, ob man das so erzählen kann oder nicht.
Am 1. Februar 2008 um 14:45 Uhr
Bist Du nicht neugierig, was alles da drin ist?
Am 1. Februar 2008 um 18:17 Uhr
Muss ich als Leserin denn wirklich wissen, warum der Erzähler jetzt den Erhalt des Päckchens nicht mit einer Unterschrift bestätigen kann (sofern es überhaupt so weit gekommen ist)? Ob der Erzähler nicht unterschreibt, weil er zwanghaft veranlagt ist und so ein begrabbeltes UPS-Dings nicht anfassen will, ob er einfach nur schlecht gelaunt ist und ihn ein blau-äugiger Kurier gerade tierisch nervt oder ob seine Religion es ihm verbietet – ist das nicht egal? Welches auch immer die Erklärung für dieses Verhalten ist, aus meiner Sicht ist doch vor allem entscheidend, dass das Leben für diese Person gerade sehr kompliziert ist.
Wenn ich Ihre Beiträge zu dem Romanprojekt richtig verstanden habe, dann soll es doch um die Frage gehen, was in der Vergangenheit „wirklich“ passiert ist und wie sich diese „wirklichen Geschehnisse“ verändern im Prozess des sich daran Erinnerns. Liegt dann nicht ein gewisser Reiz in der Unklarheit, warum sich Ihr Protagonist gerade so „komisch“ dem Kurier gegenüber verhält?
Mich jedenfalls hat der Anfang der Geschichte gleich neugierig werden lassen und ich fragte mich sofort, was daran jetzt nicht gehen solle…
Am 2. Februar 2008 um 19:31 Uhr
es wird einfach schwierig wenn alles nur noch aus rätseln besteht. der anfang ist gut, aber es geht ja allgemein darum wieviel der leser verstehen soll/muss.
Am 2. Februar 2008 um 20:05 Uhr
[…] Es könnte also, meinen die Turmsegler-Leser, doch gehen… Also machen wir die Probe aufs Exempel und schauen und den ersten Teil der […]
Am 14. Februar 2008 um 23:50 Uhr
[…] Text angeht, nicht weiter im Turmsegler zu präsentieren. Für das bisherige Interesse und die Ratschläge danke ich den Turmseglern herzlich. Aber ich muss nun mit dem Projekt in den Untergrund gehen, bis […]
Am 19. November 2009 um 22:51 Uhr
[…] Ich erinnere mich noch gut (und gern!) an die Diskussion, die hier Anfang 2008 stattfand, als ich mit dem Beginn des ersten Wechsler-Kapitels der […]