liebe sagen – lyrik aus dem ägyptischen altertum (© Philipp Reclam jun. Leipzig, 1972, 1982)
Umschlagbild unter Verwendung eines Ostrakons aus dem Ägyptischen Museum Berlin
Er:
Einen von sieben Tagen seit gestern
habe ich die Schwester nicht gesehen.
Krankheit befiel mich
schwer wurden meine Glieder
vergessen habe ich meinen eigenen Leib.
Kommen die Oberärzte zu mir
ist mein Herz mit ihren Mitteln
nicht zufrieden.
Die da besprechen
auch durch sie gibt es keinen Weg.
Nicht erkannt wird meine Krankheit.
Doch mir zu sagen:
Siehe, sie ist da — das wäre es
was mich belebt
ihr Name ist’s
was mich erhebt.
Das Kommen und Gehen ihrer Boten
das ist es
was mein Herz lebendig macht.
Viel besser
als alle Medikamente ist die Schwester für mich.
Größer ist sie für mich als das Arzneibuch.
Ihr Dasein ist mein Amulett.
Sehe ich sie
dann bin ich gesund
Öffnet sie ihr Auge
wachsen meine Glieder
Spricht sie
so werde ich stark
Wenn ich sie umarme
verteibt sie das Übel von mir.
Fort ging sie von mir auf sieben Tage.
aus: „liebe sagen – lyrik aus dem ägyptischen altertum“
© Philipp Reclam jun. Leipzig, 1972, 1982
Übertragung: Hannelore Kischkewitz
••• Im alten Ägypten waren Schreibmaterialien noch wertvoll: Papyrus oder Ostraka (Kalksteinscherben). Die Schreiber, beauftragt mit der Verewigung von Verträgen beispielsweise, hinterliessen auf letzteren mitunter Fragmente eigener lyrischer Inspiration und verewigten so ihre Poesie, sich selbst jedoch nicht, denn zumeist blieben sie anonym. Die Person des Dichters (oder der Dichterin!) spielte erst später eine Rolle, und die Verfasser verwiesen mit Versauszügen und ihrer Signatur auf ihr „eigentliches Werk“, das an anderer Stelle zu finden sei und heute verschollen ist. Und es mussten noch mehr Jahre vergehen, bis andere mühsam die Fragmente sammelten, in Zyklen und Anthologien auf Papyrus ordneten und so einem wohlhabenden Publikum zugänglich machten, das Dichtung zu schätzen wusste.
Das zitierte Buch habe ich ca. 1985 gekauft, innig geliebt und irgendwann bei einem Umzug verloren. Vor kurzem habe ich es via Online-Antiquariat wiedergefunden und nochmals erstanden. Was mich an diesen Liebesgedichten damals besonders überraschte, war der Umstand, dass viele von ihnen stark an die Bildwelt und sogar bestimmte lyrische Gestaltungsformen des Shir ha-Shirim (Hohelied Salomos) erinnern. (Das oben zitierte Beispiel zählt ausgerechnet nicht dazu.)
Verwunderlich, so Herausgeberin Hannelore Kischkewitz im Nachwort des schmalen Bändchens, sei das nicht. Ausgehend von der ägyptischen Liebeslyrik hätten die Formen (Beschreibungslied, Trennungslied, Einlasslied) und auch die Gestaltungsmittel ihren Weg durch den ganzen Orient angetreten und deutliche Spuren sowohl in der hebräischen als auch der arabischen und persischen Dichtung hinterlassen. Sie zitiert zur Illustration ein Lied des Prinzen Aradschir an seine angebetete Hajat en-Nufus aus der 732. von 1001 Nacht:
…
Dein Antlitz gleicht dem Morgen, wenn er dämmert:
Und deines Haares Farbe gleicht der Nacht.
Dein schlanker Wuchs ist gleich dem schwanken Zweige,
Vom Hauch des Nordwinds auf und ab bewegt;
Und deine Augen sind wie die der Rehe,
Wenn edler Männer Blick sich auf sie legt.
Dein Leib ist schmal, es lasten deine Hüften –
Die einen schwer, der andre zart und fein;
Dein Lippentau ist gleich dem süßen Weine
Mit Moschusduft und Wasser, kühl und rein …
Spezifisch ägyptisch ist die Bruder-Schwester-Anrede unter den Geliebten, die jedoch nicht auf die durchaus übliche Geschwisterehe unter den Majestäten im Nil-Staat zurückzuführen sei. Sie ist in den befruchteten Dichtungen des Orients nicht mehr zu finden. Mir hat diese Anrede als Zeichen grosser Intimität damals schon gefallen, zumal die Lieder keinen Zweifel daran lassen, dass auch die körperliche Liebe unter diesen „Geschwistern“ nicht zu kurz kam.
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