••• Ich war mir nicht sicher, ob ich mich tatsächlich in die Sekundärliteratur zum „Fall Wilkomirski“ stürzen oder mir zunächst ein deutlicheres Bild meiner literarischen Figuren machen sollte, die ja mit keinem der am Fall beteiligten Personen identisch sein sollen. Ich habe ersteres getan.
Das wesentliche Material scheint mir übersichtlich zu sein. Die massgeblichen Arbeiten sind in zwei Büchern zusammengefasst. Das eine stammt von Daniel Ganzfried. Es trägt den provokativ anmutenden Titel „… alias Wilkomirski – Die Holocaust-Travestie“.
Herausgegeben wurde es von Sebastian Hefti im Auftrag des Deutschschweizer PEN-Zentrums. Es enthält eine Erzählung, in der Ganzfried von seinen ersten Berührungen mit dem Buch Wilkomirskis berichtet, das zeitgleich mit seinem eigenen Roman „Der Absender“ erschien.
Georg ist auf der Suche nach seiner eigenen Geschichte. Bei seiner Arbeit im geplanten Holocaust-Museum in New York stößt er auf Tonbänder, auf denen ein anonymer Absender über seine Kindheit in Ungarn, über die Zeit im Konzentrationslager sowie über seine Emigration nach Israel erzählt. Dieser Absender könnte sein Vater sein. Jetzt, auf dem Empire State Building in New York, will er ihn zur Rede stellen. Ohne anzuklagen und ungewöhnlich fesselnd beschreibt Ganzfried sowohl das Schicksal der ungarischen Juden als auch die drängenden Fragen der „zweiten Generation“. Sehr kritisch beobachtet er dabei die Prestige- und Profitgier im Geschäft mit dem Holocaust und die Erstarrung der Gedenkrituale. [Quelle: amazon.de]
Vor dem Hintergrund dieses eigenen Buches und seiner umfangreichen journalistischen Auseinandersetzung mit dem Thema der Holocaust-Aufarbeitung in der Schweiz stösst ihm das Buch unangenehm auf. Ein Buchhändler schenkt es ihm. Er liest es im Hotel. Es kommt ihm nicht echt vor. Etwas stimmt da nicht für ihn. Das Buch bleibt im Hotel liegen. Es hätte ihn wohl nicht weiter beschäftigt, wäre er dem Buch nicht immer wieder begegnet – via Besprechungen, Dokumentarfilme etc. etc.
Im Jahr 1998 wird Ganzfried beauftragt, für die „passagen“, eine von der Schweizer Stiftung „Pro Helvetia“ herausgegebene Zeitschrift, einen Artikel über Wilkomirski zu schreiben. Thema des Heftes: „Der kreative Akt“. Es sollte verschiedene Beiträge von Kreativen über Kreative enthalten. Im Zusammenhang mit dem Thema der „Bruchstücke“ von Wilkomirski schien es eigenwillig, ein Porträt unter dieser Headline zu bringen. Das Fragwürdige war aber durchaus gewollt. Denn das Gerede über diverse Anzeichen, die Erinnerungen Wilkomirskis könnten nicht echt sein, war schon aufgekommen, bevor das Buch 1995 bei Suhrkamp erschien. Und die Anzeichen mehrten sich. Ganzfried könne diesen Gerüchten ruhig nachgehen. Er wird mit ein wenig Recherche-Budget ausgestattet und bringt sehr schnell und vergleichsweise leicht die wesentlichen Fakten zutage. Das Ergebnis: Die erzählte Biographie stimmt keineswegs mit der nachprüfbaren Schweizer Biographie des Bruchstücke-Autors überein. Er sei in der Schweiz geboren und aufgewachsen. „Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doesseker aber“, so schliesst Ganzfrieds Artikel, „kennt Auschwitz und Majdanek nur als Tourist.“
Kaum liegen die Fakten auf dem Tisch, beginnt das literarische Establishment (Agentur, Verlage, Feuilleton) mit Unterdrückungsversuchen. Der Artikel kann in „passagen“ nicht erscheinen, wird jedoch in der „Weltwoche“ veröffentlicht. Als Verschweigen nicht mehr hilft, wird das Buch nicht etwa vom Markt genommen. Im Gegenteil – ein handfester Skandal ist schliesslich verkaufsfördernd! Was Ganzfried hier an Machenschaften beschreibt, könnte leicht reichen, nie wieder in einem so genannten „Publikumsverlag“ veröffentlichen zu wollen.
Ganzfrieds dokumentarische Erzählung ist doch eher eine Reportage. Man frisst sie einfach so weg. Zu ungeheuerlich ist, was da berichtet wird. Für Ganzfried ist Wilkomirski schlicht ein Betrüger, der im Verein mit Agentur und Verlag mit einer Holocaust-Travestie Kasse macht. Die Recherchen gehen nur so weit, wie es nötig ist, um den Betrug wasserdicht zu beweisen. Ein Interesse an der Person Wilkomirski hat Ganzfried nicht. Die politische, ethische Problematik steht im Vordergrund. Wie das Buch und wie die angeeignete Biographie entstanden ist, das beschäftigt ihn nicht. Muss es auch nicht. Diese Informationslücke hat später der Historiker Stefan Mächler mit seinem Buch „Der Fall Wilkomirski“ geschlossen.
Neben der Ganzfried-Erzählung enthält obiges Buch noch Beiträge von Elsbeth Pulver, Lorenz Jäger, Rafael Newman, Claude Lanzmann, Imre Kertész, Hans Saner, Wanda Schmid, Ruth Klüger und Philip Gourevitch. Es handelt sich um Essays, Gespräche und Dokumente, die den Fall näher beleuchten.
Meinen Blick auf den Fall hat dieses Buch merklich verändert. Nach der Lektüre war mir tatsächlich kaum vorstellbar, dass Wilkomirski nicht bewusst gewesen sein sollte, dass seine erzählte Biographie nicht den Tatsachen entsprach.
Am 13. Januar 2008 um 06:57 Uhr
Hatte das Vergnügen, damals unmittelbar nach Erscheinen von Mächlers Studie eine Besprechung dieses insgesamt unsäglichen „Falles“ für die NZZ zu verfassen. Der Text hat online auf der Heimseite des Chronos Verlags überlebt .
Am 15. Januar 2008 um 09:13 Uhr
[…] auch ganz anders zu einem umfassenden Bericht über den Fall zusammen, als dies etwa in Ganzfrieds Buch zuvor geschehen war. Das Vorgehen Mächlers ist mir ausserordentlich sympathisch; denn an […]