Rav Aharon Shear-Yashuv auf dem Dach eines Hauses in der Plugat Ha-Kotel
••• Und wieder habe ich einen Bus verpasst. Ich war früh auf, doch nicht früh genug. Am zentralen Busbahnhof sah ich gerade noch die Rücklichter des Busses nach Massadah. Also bin ich zum Informationsschalter, um mich zu erkundigen, wann der nächste Bus fährt. Die Dame am Schalter meinte sehr freundlich, aber bestimmt, dass ich, statt den nächsten Bus zu nehmen, auf einen Anruf warten sollte. Jemand hätte andere Pläne mit mir und würde sich mit mir in Verbindung setzen.
Das gefällt mir, denn ich bin ja hierher gekommen, um mich von Entdeckung zu Entdeckung, von Überraschung zu Überraschung treiben zu lassen. Ich muss nicht lange auf den Anruf warten. Das Telefon klingelt bereits, während ich noch nach einem gemütlichen Platz in einem der Cafés Ausschau halte. Es meldet sich Rav Aharon Shear-Yashuv. Er stammt ursprünglich aus Bochum, ist 1970 via USA nach Israel eingewandert, lehrt heute als Professor für jüdische Philosophie an der Bar-Ilan-Universiät und wohnt seit 1979 im jüdischen Viertel der Jerusalemer Altstadt. Die Stadtmauer aus der Zeit des zweiten Tempels verläuft direkt unter seinem Haus.
Er lädt mich ein, ihn zu besuchen. Er hätte gehört, ich würde mich für historische Mikvaot interessieren, und er könne mir einige zeigen. Meine Pläne für den Tag sind flugs verworfen. Ich sage zu, nehme ein Taxi zum Yaffa-Tor und setze zum ersten Mal einen Fuss in die Altstadt von Jerusalem.
Als der Professor erfährt, ich sei zum ersten Mal in Yerushalyim, kann er es kaum fassen. Er führt mich auf das Dach seines Hauses. Von der Dachterrasse aus hat man einen phantastischen Ausblick über die gesamte Altstadt. Also, dann gehen wir doch mal ein Stück, sagt er. Und das tun wir dann auch. Er führt mich durch kleine Gassen, über die Dächer, durch Tunnel und Durchgänge. Und als wir schliesslich in seiner Synagoge Halt machen, um Minchah zu beten, sind 4 Stunden vergangen.
Seine Synagoge wurde 1846 von marokkanischen Juden erbaut. Ein Rabbiner wanderte damals mit seiner gesamten Gemeinde nach Israel ein. Erbaut wurde nicht nur die kleine Synagoge, sondern auch Wirtschaftsgebäude und – für die Familien – die erste Siedlung ausserhalb der damaligen Stadtmauern Jerusalems, die inzwischen natürlich bereits Teil des Stadtzentrums geworden ist.
Die Synagoge dient tagsüber als Kollel, also als Talmud-Schule für Familienväter. Sie lernen von 9:00 bis 16:00 und erhalten dafür eine Art kleines Gehalt, so dass sie auch einen Beitrag zum Familienbudget leisten können. Ich war nicht schlecht erstaunt, an zentraler Stelle in dem kleinen Lehrhaus eine Stechuhr vorzufinden. Torah-Lernen im Akkord? Naja, man müsse den Leuten schon ein bisschen Disziplin abverlangen. Die Stechuhr wurde vor zwei Jahren eingeführt.
Die Mikvaot aus der Zeit des zweiten Tempels befinden sich an der Aussenseite der heutigen südlichen Stadtmauer. Sie wurden von den Kohanim benutzt, die im Tempel dienten und oft mehrere Male pro Tag eine Tevilah (Untertauchen) in der Mikveh nehmen mussten.
Natürlich sind wir auch zur Westmauer hinabgestiegen und haben an diversen geschichtsträchtigen Punkten Halt gemacht. Und all das in frischester Erinnerung, sitzen wir wenig später bei ihm am Tisch, essen, und ich bekomme eine Lektion in religiösem Zionismus. Der Professor zitiert eine Mishna Rabbi Meirs (Talmud Yerushalmi III/3), nach der Yehudi ist, wer 1) im Land Israel lebt, 2) die heilige Sprache spricht, 3) morgens und abends das „Sh’ma Yisrael“ sagt und 4) die Speisegesetze hält. Es gäbe rabbinische Autoritäten, die der Meinung waren, die ganze Torah sei nur für das Land Israel gegeben worden.
Am Thema der Sprache beissen wir uns fest, und er gibt mir ein Beispiel. Wenn von Am Yisrael (Volk Israel) die Rede ist, so könne man das nur aus der hebräischen Sprache heraus verstehen. Das deutsche Wort führe vollständig in die Irre. Es klingt nach Folgen, jemandem zu folgen, der führt. Das Wort Am hingegen ist verwandt mit im (mit) und impliziert Miteinander. Entsprechend sei die Torah eine Gesetzgebung für eine Gemeinschaft. Ein weiteres Beispiel das Wort Melech (König), das sich vom Wortstamm für „sich beraten“ herleitet. Für ihn ist ein demokratischer jüdischer Staat gerade mit Blick auf die Torah nur folgerichtig.
Shear-Yashuv spricht leidenschaftlich und sehr überzeugend. Als ich mich zwei Stunden später von ihm verabschiede, weiss ich, dass ich meine Weigerung, das Hebräische auch als Alltagssprache zu begreifen und entsprechend auch zu lesen und zu sprechen, nicht aufrecht erhalten kann. Und ich glaube, wenn ich noch ein wenig länger geblieben wäre, würde ich mich morgen nach einer Wohnung hier umsehen…
Dass ich den Bus nach Massadah verpasst habe, war jedenfalls eine wunderbare Fügung. Die Fotos vom Tage sind in einem Flickr-Set zusammengestellt – für jene, die es interessiert.
Blick vom Dach über dem Davidsgrab: Moschee, Kirche und die Synagoge des Nasi (Präsidenten). Vor dem Sechstagekrieg war dieses Dach der näheste Ort mit direkter Sicht auf die Westmauer.
Den Abend habe ich in Buchläden in Meah Shearim verbracht. Das war nun eine Erfahrung ganz anderer Art, von der ich vielleicht ein anderes Mal berichten werde. Als ich – völlig erschöpft – ins Hotel nach Bakah zurückkam, fand ich weitere Nachrichten vor. Nur so viel sei verraten: Die Mikveh, die ich suche, scheint gefunden. Sie liegt verlassen in der Wildnis an einer Quelle, irgendwo auf dem Weg zwischen Yerushalayim und Haifa. Ich werde am Mittwoch dorthin fahren.