••• Der Koffer ist gepackt, das Arrangement für Schabbat in Ofra bestätigt, die Verabredung für morgen in Tel Aviv getroffen. Es kann losgehen.
Ich bin enorm aufgeregt, nicht nur wegen der bevorstehenden Reise, sondern auch, weil sich heute früh binnen fünf Minuten für mich geklärt hat, wie das Buch geformt sein soll. Ich hatte zunächst nur eine vage und ziemlich abstrakte Idee: Um eine spezifische, bedeutsame Variante von Wirklichkeit sollte es gehen — um Identität. Um genau zu sein: angenommene und zurückgelassene Identität.
Bequem an der Literatur ist, dass man von einer Prämisse ausgehen darf, die nicht zwingend wissenschaftlich bewiesen sein muss. Meine Prämisse hier lautet: Identität formt sich aus unseren Erinnerungen. Und das Wunderbare und gleichzeitig Fatale besteht darin, dass wir unseren Erinnerungen nicht trauen können. Mit jedem Wieder-Erinnern an ein Erlebnis überdecken wir mit der Erzählung des Erlebten das eigentlich Erlebte, und wir können nach einigen Jahren kaum noch sagen, ob das, was wir als authentische Erinnerung ausgeben, tatsächlich noch viel mit dem zu tun hat, was wir ursprünglich erlebt haben. (Ich werde im Rahmen der Materialsammlung einige Beispiele geben für dieses Phänomen, das sogar tatsächlich bereits wissenschaftlich untersucht worden ist.)
Aus vagen Ideen kann man nun allerdings keinen Text machen. Ich stelle mir eine sehr klare, sehr persönliche Prosa vor. Ich-Erzählung — aber das versteht sich bei meiner Vorstellung von Erzählen ohnehin. Dafür aber braucht es nun eine Geschichte oder – besser natürlich – mehrere, die sich ineinander verschränken liessen. In den letzten Tagen fiel mir auf, dass ich daran nicht nur keinen Mangel habe, sondern sogar so viel Stoff, dass es in einem à la Hugo geschriebenen Roman flugs auf 800 Seiten käme.
Wie das? Nun, hier sind nur ein paar Beispiele für Identitätsaneignungen bzw. Identitätshäutungen:
- Figur A, in Deutschland geboren bspw. entschliesst sich zu einem orthodoxen Übertritt zum Judentum.
- Figur B, in USA oder Israel in so genanntem „ultraorthodoxen“ Milieu aufgewachsen, sucht eine psychologische Beratungsstelle für „Aussteiger aus der Orthodoxie“ auf, möglicherweise weil er (oder sie) sich davon überzeugt hat, homosexuell zu sein und keinen Weg sieht, das Kindheitsmilieu mit diesem Umstand zu vereinbaren. (Letztere Zuspitzung wäre nicht einmal nötig.)
- Figur C, vermutlich ein ehemaliger KZ-Arzt, der biographische Ähnlichkeiten mit Mengele hat, rettet sich über die vatikanische „Rattenlinie“ nach Südamerika und nimmt notgedrungen eine neue Identität an. Er stirbt mutmasslich bei einem Badeunfall im Meer.
- Figur D, ein um 1940 in der Schweiz geborener Junge, wird mit 2 Jahren ins Kinderheim gegeben, kurz darauf von einer Arzt-Familie adoptiert. Im Verlauf einer Psychoanalyse stösst er auf Erinnerungen an eine Kindheit im Rigaer Ghetto, an die Ermordung seines Vaters vor seinen Augen, seine eigene Deportation nach Auschwitz, sein Überleben und schliesslich die Reise in die Schweiz, zunächst in ein Kinderheim, schliesslich zu seiner Adoptivfamilie. Seine „wahre“ Geschichte, so seine Überzeugung, wurde ihm vorenthalten. Er schreibt ein Buch über seine wiedergefundenen Erinnerungen, seine, wie er fest glaubt, wahre Identität. Das Buch wird in 20 Sprachen übersetzt, er reist um die Welt. Ein Journalist schliesslich legt Beweise dafür vor, dass die von ihm erinnerte Version der eigenen Biographie unmöglich stimmen kann. Ein Literaturskandal folgt, die vollständige öffentliche Demontage einer persönlichen Wahrheit.
- Figur E, der Analytiker, der obigem Schweizer Jungen geholfen hat, die verschütteten und offenbar falschen Erinnerungen wieder zu entdecken, bemerkt an sich Symptome von zunehmendem Gedächtnisverlust. Er vergisst sich selbst und zwar in einem rasant fortschreitenden Prozess. Mit dieser Beobachtung einher gehen starke Selbstzweifel; denn er kann nicht umhin, sich die Schuld zu geben für das Unglück, das seinen Klienten durch die öffentliche Blossstellung getroffen hat. Er hatte heilen wollen und seinen Klienten – wissentlich oder unwissentlich – in eine neue Tragödie geführt. Er gibt seine Praxis auf und unternimmt eine Reise nach Israel, um … Um die verlorenen Erinnerungen, die schwindende Identität zu ersetzen — mit neuen Erinnerungen, einer neuen, angeeigneten Identität. Er notiert die Bausteine seines „Kunstwerkes“, denn: was geschrieben steht, hat Bestand. Das jedenfalls meint er.
Wie gesagt, das ist nur ein Auszug der möglichen Sujets, die mir durch den Kopf gingen. Nun kommt für mich keine Variante der Erzählung infrage, die länger als 200 Seiten wäre. Und heute nun wurde mir schlagartig klar, wie sich all dies erzählen lässt, ohne einen Wälzer daraus machen zu müssen. Die Hauptfigur, mit deren Einführung der Text auch beginnen wird, ist Amnon Zichroni, der besagte Analytiker auf seinem „Ausstiegstrip“.
Er hat seinen Koffer gepackt. Morgen wird er gegen 18:30 Ortszeit, aus Zürich kommend, in Tel Aviv eintreffen. Gut möglich, dass ich ihm begegne, denn ich sollte nur wenige Minuten vor ihm dort landen. Er wird nach Herzliyah reisen, um einen seiner Schüler zu besuchen, der inzwischen an der dortigen Universität lehrt. Er wird tags darauf im Meer baden und gegen Mittag nach Ofra aufbrechen, um dort Schabbat zu verbringen…