Der Schwan
I
Zu dir, Andromache, eilt fetzt mein Sinn beflügelt.
Der grauarmselige Fluss, drin einst sich hoheitsvoll
Dein ungeheurer Schmerz, dein Witwenleid gespiegelt,
Der trügerische Fluss, der durch dein Weinen schwoll,
Hat plötzlich aufgeweckt, befruchtet mein Gedächtnis.
In Sinnen schreit‘ ich durch das neue Karussell.
Vom einstigen Paris nur noch ein karg Vermächtnis.
Wie schnell stirbt eine Stadt! Kaum Liebe stirbt so schnell.
Nur noch im Geist seh‘ ich dies Feld von Hütten wimmeln,
Halbfertige Säulen da, dort Blöcke grau berusst,
Geröll und Stein seh‘ ich in grünen Pfützen schimmeln,
Am Boden Trödelkram, ein glänzend wirrer Wust.
Tierbuden standen dort. Und einst zu jener Stunde,
Da von der Lagerstatt der Tag sich fröstelnd hebt,
Arbeit und Qual erwacht, und in die stille Runde
Von dem Schindanger her ein dumpfes Heulen schwebt,
Da sah ich einen Schwan, der seiner Haft entwichen;
Mit seinem Flossenfuss reibt er den trocknen Sand,
Sein weisser Flügel schleift am Weg, dem kümmerlichen,
Er bleibt am Bache stehn, daraus das Wasser schwand.
Und zitternd badet er im Staub sein zart Gefieder
Und ruft, das Herz erfüllt vom blauen Heimatteich:
»Wolke, wann regnest du? Wann fährst du Blitz hernieder?«
Ich sah dies fremde Bild, uralten Mythen gleich.
Wie es Ovid erzählt, reckt er zum Himmel droben,
Der blau herniederlacht in grausam herbem Spott,
Reckt er auf schwankem Hals sein durstig Haupt nach oben,
Als schleudr‘ er seinen Zorn und seine Qual zu Gott.
II
Paris verändert sich. In mir will sich nichts ändern,
Der Trübsinn nagt an mir. Gerüst, Geröll, Palast,
Rings alles scheint verhüllt mit seltsamen Gewändern,
Und lieb Erinnern drückt mich schwer wie Bergeslast
Vorm Louvre stand ein Bild plötzlich vor meinen Sinnen;
Ich sah den grossen Schwan, der scheu vorüber schlich,
Wie der Verbannte, der verhöhnt und stolz tief innen
Der Sehnsucht Wunde birgt. – Da dachte ich an dich,
Andromache, der jäh den Gatten man entrissen,
Die in des Pyrrhus Hand als Beute fallen muss,
Die auf ein leeres Grab sich krümmt, von Qual zerrissen.
Des Hektars Witwe, ach, und Weib des Hellenus.
Der Negerin dachte ich, der magren, kranken, müden.
Die, watend tief im Schlamm, verstörten Blickes späht
Nach ihrem Kokoswald, der fern im lichten Süden,
Jenseits der Nebelwand, der ungeheuren, steht.
An jeden, der verlor, was nie ihm wiederkehrte,
Nie, niemals wiederkehrt, der seine Tränen trank
Und an dem Schmerz wie an der Wölfin Brust sich nährte,
Der Waisen dachte ich, gleich Blumen welk und krank. –
Den Wald, den sich mein Geist als Zuflucht auserkoren.
Durchzieht wie Hörnerklang alter Erinnrung Hauch.
Ich denk‘ der Schiffer, die auf fernem Riff verloren.
Besiegter, Fallender; und all der andern auch.
Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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