Die Sonne
Durch der alten Vorstadt verfallene Gassen und Ecken,
Wo verblichene Gardinen das heimliche Laster verstecken,
Wenn die Sonne grausam glühende Pfeile gesandt
Auf das Korn und die Dächer, die wimmelnde Stadt und das Land,
Schreit ich, phantastische Fechterkünste verführend,
In allen Winkeln die Reime witternd und spürend,
Über Worte strauchelnd und Steine, wie Trunkne es tun,
Und Verse stammelnd, die träumend schon lang in mir ruhn.
O Sonne, Ernährer, du Feind kranker Säfte und Keime,
Du lässt wie Rosen erblühen die Lieder und Reime,
Du lässt die Sorgen verdunsten in leuchtender Luft,
Wie den Bienenkorb füllst du das Hirn uns mit Süsse und Duft;
Dem Mann an der Krücke selbst leihst du Begeistrung und Schwung
Und machst wie ein Mädchen ihn, fröhlich und lachend und jung,
Befiehlst auch der Ernte, dass sie wächst und gedeiht
Im unsterblichen Herzen, das ewig zu blühen bereit!
Wenn leuchtend und golden hinab zu den Städten du gleitest,
Wie ein Dichter den Glanz um Schmutz und um Hässlichkeit breitest,
Dann trittst du, ein König, ohne Lärmen und Hast
Und ohne Dienerschar in Hütte und Palast.
Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
• „Fleurs du Mal“ als RSS-Feed abonnieren