••• Wer, frage ich heute einmal in die Runde, könnte den folgenden Brief geschrieben haben?
Ich soll mich mit Ihrer Erziehung befassen, Marquis? Soll Sie auf dem Pfade geleiten, den Sie einschlagen? Ach, das hieße doch, an meine Freundschaft zu Ihnen allzu große Anforderungen zu stellen! Sie wissen ja: scheint eine Frau einem jungen Manne ganz besondere Aufmerksamkeit zu schenken, und sie hat die erste Jugend hinter sich, dann sagt man von ihr, sie will ihn in die Welt setzen. Und Sie kennen doch recht gut die Bosheit, die hinter dieser Wendung lauert. Soll ich mich dummerweise in die Lage bringen, daß man dies Sprüchlein entsprechend auf mich anwendet? Ich kann Ihnen nur einen Dienst leisten: Ihre Vertraute sein. Sie erzählen mir, was Ihnen im Verkehr mit Frauen alles begegnet. Gegebenenfalls werde ich Ihnen sagen, wie ich darüber denke. Ich will dann versuchen, Ihnen dabei behilflich zu sein, daß Sie einen Blick des Verstehens in Ihr eigenes Herz und das der Frauen tun.
Von solchem Verkehr verspreche ich mir manch schönes Vergnügen. Und doch bin ich mir über die Schwierigkeiten eines solchen Versuches nicht im Unklaren. Der Gegenstand, von dem meine Briefe handeln werden, das menschliche Herz, umspannt so viel Gegensätze, daß unbedingt jeder, der hierüber spricht, anscheinend in zahllose Widersprüche gerät. Man glaubt, das Ding zu packen, und greift nur einen Schatten. Es ist das reinste Chamäleon: so viel verschiedene Seiten, so viel ganz andere Farben, und doch sind sie alle tatsächlich demselben Dinge eigen. Sie müssen sich also darauf gefaßt machen, daß Sie gar seltsame Dinge zu lesen bekommen. Aber was tut das schließlich? Ich entwickle Ihnen meine Gedanken. Oft werden sie Ihnen mehr eigenartig als wahr erscheinen. So ist eben Ihre Aufgabe, sie richtig einzuschätzen.
Übrigens bedrückt mich noch ein Bedenken. Ich sehe schon jetzt voraus, daß ich schwerlich ganz offen sein kann, ohne über mein Geschlecht bisweilen etwas herzuziehen. Sie wollen doch aber meine Gedanken über die Liebe kennenlernen, über die Frauen, die dies Gefühl einflößen, und über alles, was damit zusammenhängt, und ich fühle mich mutvoll genug, offen mit Ihnen darüber zu reden. Stoße ich unterwegs auf die Wahrheit, so werde ich sie enthüllen, ohne lange zu fragen, welches der beiden Geschlechter sie kränken könnte. Die Männer werden also begreiflicherweise uns gegenüber nicht zu kurz kommen.
Ninon de Lenclos, aus:
„Die Briefe der Ninon de Lenclos an den Marquis de Sévigné“
Wilhelm Borngräber Verlag Berlin, 1916
Übertragung Horst Broichstetten
Die Auflösung kam von der Sprachspielerin.
Am 11. Dezember 2007 um 11:56 Uhr
Ich weiss es, ich weiss es!
Am 11. Dezember 2007 um 12:00 Uhr
Ich weiss, ich weiss, ich weiss, dass Du es weisst! Aber Du darfst nichts verraten!!
Am 11. Dezember 2007 um 19:17 Uhr
So, ich weiß es auch, soll/darf ich’s verraten oder lieber nicht? (Vielleicht als Hinweis: ich habe mich mal mit Kurtisanen und Hetären und dem Hetärenkult kurz nach 1900 beschäftigt, deshalb kenn‘ ich das…)
Interessant finde ich ja, dass Sie genau dieselbe Übersetzung haben wie ich, die nach meinen Informationen ca. von 1915 stammt…
Am 11. Dezember 2007 um 19:18 Uhr
Natürlich dürfen Sie es sagen. Nur die Herzdame durfte nicht, weil sie „Insiderin“ ist :-)
1915? Ja, es scheint tatsächlich die gleiche Übersetzung zu sein….
Am 11. Dezember 2007 um 19:31 Uhr
Na gut, es ist der Anfang des ersten Briefes der ‚unseligen Ninon‘, wie Fanny zu Reventlow sie in ihrem Roman ‚Von Paul zu Pedro – Amouresken‘ (über den ich meine Abschlussarbeit geschrieben habe) nennt.
Also die Briefe von Ninon de Lenclos an den Marquis de Sevigné, übersetzt von Horst Broichstetten.
Am 11. Dezember 2007 um 21:26 Uhr
Treffer. Und was es genau mit dieser Ausgabe auf sich hat – davon morgen mehr.