••• Die Herzdame räumt ihre Bücher um und reicht mir ein Buch, über das ich schon vor Monaten schreiben wollte. Nur gingen damals die Assoziationen, von denen ich mich hier treiben lasse, offenbar andere Wege, so dass das Vorhaben in Vergessenheit geriet. Das Versäumnis soll nun aber wettgemacht werden.
Ryunosuke Akutagawas Prosa ist eine Offenbarung, rein und klar wie Quellwasser und dabei doch irritierend und verwirrend, wie man es sich nur vorstellen (und wünschen) kann.
Ganze 35 Jahre alt wurde dieser japanische Autor. Von Depressionen geplagt, nahm er sich 1927 das Leben. Seine Werke – zumeist short stories, die auch Romane hätten werden können – spielen häufig in der weiter zurückliegenden Vergangenheit, im Japan versunkener Jahrhunderte. Die Verbindung zum Japan des beginnenden 20. Jahrhunderts, in dem Akutagawa lebte und in dem die aufkommende Industrialisierung die Isolation Japans aufzubrechen begann, die Verbindung zu diesem Japan knüpft der Autor im Subtext seiner stories, im unausgesprochen Mitschwingenden. So sehr jene anbrechende neue Zeit den strikten Traditionen am Zeug zu flicken schien, so fest verwurzelt zeigten sie sich doch nach wie vor in den Menschen.
Eine wunderbare derartige Parabel über die Problematik persönlicher Ehre und Gesichtwahrung diente Akira Kurosawa als Vorlage für seinen klassisch zu nennenden Film „Rashomon“. Dabei ist der Filmtitel einer anderen Erzählung von Akutagawa entlehnt. Die verfilmte Geschichte heisst „In a Grove“ (Im Dickicht) und ist ganze 13 Seiten lang, von denen jede einzelne eine Perle ist.
Akutagawa berichtet von einem Mord: Ein Samurai führt seine gerade 19jährige Braut heim; unterwegs begegnet ihnen ein Reisender, der sich ihnen anschliessen möchte und sie – mit einer List – von der Hauptstrasse fort ins Dickicht eines Bambushains lockt. Wenig später wird der Samurai von einem Holzsammler tot aufgefunden, die junge Frau wird vermisst, der bekannte Räuber Tajomaru wird verhaftet und gesteht den Mord. Erzählt wird die Geschichte in 8 Zeugenaussagen. Und scheint zunächst auch alles sonnenklar, verwirrt sich die Geschichte urplötzlich, als auch die junge Frau, die in einem buddhistischen Kloster Schutz sucht, den Mord an ihrem Mann gesteht. Um die Verwirrung vollständig zu machen, kommt durch ein Medium auch der Ermordete selbst zu Wort und — gesteht ebenfalls, und zwar, sich selbst getötet zu haben.
Klar und unbestritten ist lediglich, dass in jenem Bambushain eine Vergewaltigung stattgefunden hat und dass sowohl der anschliessende Mord als auch die drei einander widersprechenden Geständnisse etwas mit verlorener und vermeintlich wiederhergestellter Ehre zu tun haben. Wer war der Mörder? Wer stiftete an zum Mord? Und warum? Welche der Versionen ist wahr? Sie sind es — vermutlich — alle.
Nachzulesen ist die Geschichte in Englisch in der kleinen Akutagawa-Sammlung „Rashomon“ (die ich besitze) und in der deutschen, bei Luchterhand erschienenen Ausgabe „Rashomon“. Letztere kenne ich nicht und habe ich soeben erst bestellt. Der Titel der Erzählung könnte also dort ein wenig anders lauten.
Wer sich Kurosawas Verfilmung ansehen möchte, kann dies online tun — und zwar, wie die Herzdame meldet, völlig legal. Zu finden ist der Film »»hier und »»dort.
Am 13. Dezember 2007 um 19:54 Uhr
[…] Wer sich nach dem Beitrag über Ryunosuke Akutagawa für seine Prosa interessiert, muss nicht gleich eine der erwähnten Ausgaben seiner short […]