At our last parting
bending between
boat and shore . . .
That weeping willowMasaoka Shiki (1866-1902)
Beim letzten Abschied
beugt sich über
Boot und Steg . . .
die Trauerweide
••• Aus dem Moleskine der Herzdame wächst heute eine Trauerweide. Und dazu bringt sie einen Haiku von Masaoka Shiki, dem Erneuerer der japanischen Dichtkunst. Je länger man diese wenigen Worte auf der Zunge schmeckt, desto mehr Facetten der Bedeutung treten hervor. Und besser als an diesem Gedicht kann man kaum zeigen, was Masaokas Kritik an der klassischen japanischen Dichtung ausmacht.
weeping willow – © Kerstin S. Klein (2007)
Da ich das Original weder vorliegen habe, noch lesen könnte, muss ich ganz der englischen Übertragung vertrauen. Zwei Elemente springen sofort ins Auge. Masaoka durchbricht die strenge äussere Form des für gewöhnlich dreizeiligen Haiku, behält jedoch – anders als Andrea Heuser in ihren letztens erwähnten Kurzgedichten – die vorgesehene Silbenanzahl und Anordnung (5 – 7 – 5) bei. Die Mittelzeile ist lediglich zerlegt und zwischen der ersten und letzten Zeile eingerückt.
Das zweite – in einem japanischen Haiku unerwartete Element – ist das Wort „our“ (unser). Statt ganz der Natur die Bühne zu überlassen, wie es von der Gattung gefordert wäre, führt Masaoka ein „wir“ ein. Er stellt zwei Menschen und ihren Abschied ins Zentrum des Haiku, und die Weide, der erwartungsgemäss die Hauptrolle hätte zukommen sollen, wird zu den Personen und dem Ereignis mit einer Übertragung in Beziehung gesetzt. Bedeutung und Gefühlsdimension des Augenblicks werden gespiegelt im Namen und in der Gestalt des Baumes. Die Menschen – obgleich erwähnt – bleiben unsichtbar und ermöglichen so uns, die wir der Szene zuschauen, uns selbst und all unsere durchlebten Abschiede einzufügen in diese fast filmische Sequenz.
Was geschieht? Das Boot hat das Ufer (oder den Steg) bereits verlassen. Wie ein schützender Dom wirken die herabgewölbten Zweige der Weide. Das ist der Abschiedsraum, in dem sich die beiden noch immer befinden, jener Raum, in dem die Trauer bereits aufsteigt, doch noch nicht schmerzt. Man sieht sich noch, man hat sich noch, solange das Boot unter dem Weidendom liegt.
Die gebrochene Mittelzeile des Haiku scheint mir wie das bereits räumlich getrennte Paar, das jedoch noch zwischen den Weidenzweigen (erste und letzte Zeile) Abschied nimmt. Diese Darstellung macht auch darauf aufmerksam, dass man sowohl die ersten als auch die letzten drei Zeilen als je einen Haiku lesen könnte. So wären es denn auch zwei Gedichte, zwei Welten – Mensch und Natur – die sich hier in jenem Moment des Abschieds berühren und ineinander verschwimmen.
Für die im Englischen unkundigen Leser wollte ich das Gedicht übertragen. Natürlich musste das aussergewöhnliche „wir“ erhalten bleiben und die aufgespannte Projektionsfläche. Auch die Möglichkeit der Lesart zweier Haikus in einem müsste man erhalten. Die offensichtliche Variante hätte so gelautet:
Bei unserem letzten Abschied
gebeugt zwischen
Boot und Steg . . .
die Trauerweide
Daran stimmt nun aber vieles nicht. Der erste Zeile hat drei Silben zu viel. In Zeile zwei kann es – wenn man das Partizip verwenden will – nur holpern. Will man den Klang der Vorlage hören – mit der Hebung am Anfang und Ende und den zwei Senkungen in der Mitte (auch eine Umarmung, Beschirmung des Innen von aussen! – muss man auf das Partizip verzichten. Die dreifache Alliteration bending / between / boat – im Englischen wunderschön, im Deutschen verpönt – könnte abgeschwächt, aber doch erhalten bleiben.
Nach vielen Versuchen kam ich bei dieser Variante an:
Bei unserem Abschied
gebeugt zwischen
Boot und Steg . . .
die Trauerweide
Noch immer hat es eine Silbe zu viel in der ersten Zeile, und mit dem Wort zwischen lässt sich der Klangraum der zweiten Zeile aus der Vorlage nicht aufspannen. Also versuchte ich, statt nahe am Text, nahe am Bild zu bleiben.
Unser Abschied einst
wölbt sich über
Boot und Steg . . .
die Trauerweide
Wichtiger als „our“ in der ersten Zeile schien mir jedoch „last“. Es ist ein endgültiger Abschied, oder zumindest dauert die Trennung noch an. Die Personen bleiben im Gedicht, selbst wenn man auf das „wir/unser“ verzichtet. So kam ich auf:
Beim letzten Abschied
wölbt sich über
Boot und Steg . . .
die Trauerweide
Statt „wölbt“ meinte ich schliesslich, sollte es doch „beugt“ heissen, denn so scheint es, als würde die Weide von sich aus und aktiv den Liebenden den Dom des geschützten Abschiedsraumes bauen, eine beschützende Geste. Und unversehens kommt so auch die Alliteration wieder in die Mittelzeilen – doppelt, statt dreifach, also wie gewünscht ein wenig abgeschwächt.
Beim letzten Abschied
beugt sich über
Boot und Steg . . .
die Trauerweide
Ein Versuch immerhin. – Und ein paar beflügelnde Momente mit einem grossen fremden Dichter.
Am 20. November 2007 um 15:28 Uhr
[…] Vermessen, nach einem so wunderbaren Haiku wie dem von Masaoka Shiki mit einem eigenen Haiku zu kommen. Abschiede – dieses Thema hat mich schon immer sehr […]
Am 3. Oktober 2010 um 17:04 Uhr
[…] doch immerhin einige der englischen Übersetzungen zuzusenden.Nun ist es (sehen wir einmal von Masaoka Shiki ab) bald 15 Jahre her, dass ich mich – damals war es e. e. cummings – an […]
Am 6. Februar 2011 um 05:19 Uhr
[…] Shiki Masaoka, in Matsuyama geboren und aufgewachsen, war ein Autor, der die traditionelle Form des Haiku erneuerte, an Tuberkulose erkrankte und mit fünfunddreißig starb. Als Natsume Soseki, ein früher Klassiker der modernen japanischen Erzählliteratur, 1895 in Matsuyama als Gymnasiallehrer arbeitete, freundete er sich mit Shiki an und ließ sich von ihm in die Kunst des Haiku einführen. Über sein Jahr in Matsuyama hat Soseki einen Roman geschrieben; eine Szene beschreibt, wie der Titelheld Botchan mit einer kleinen Eisenbahn zur Schule fährt. Eine solche Eisenbahn aus der Meiji-Zeit hat man in Matsuyama nachgebaut, sie dient als Touristenattraktion, erfreut vor allem Kinder und bringt Reisende vom Stadtbahnhof nach Dogo Onsen am Rand der Stadt (man kann auch die normale, schnellere und klimatisierte Straßenbahn nehmen). Die Zukunftsplaner von Matsuyama wollen aus der Stadt ein Freilichtmuseum machen, mit der alten, mehrstöckigen Burg und dem immer noch dicht bewaldeten, mit Seilbahn und Sessellift ausgestatteten Berg, auf dem sie steht, im Zentrum. […]