Lied am Nachmittag
Deiner Brauen finstrer Strich
Lässt dich seltsam fremd erscheinen.
Gleichst den Engeln nicht, den reinen,
Hexe, dennoch lockst du ‚mich.
Dennoch lieb‘ ich dich, du Wilde,
Meine sündige Leidenschaft!
Weih dir gleicher Gluten Kraft,
Wie der Mönch dem Heiligenbilde.
Durch dein Haar weht voll und weich
Wilder Duft von fernen Bäumen,
Deine Stirne steht in Träumen
Stolz und fremd und rätselreich.
Um den Leib, der hold und blühend,
Beben Weihrauchdüfte sacht;
Zaubrisch bist du wie die Nacht,
Nymphe stolz und düster glühend.
Ach, es wirkt kein Liebessaft
Wie dein lässig müdes Gleiten,
Und aus deinen Zärtlichkeiten
Steigt für Tote Lebenskraft.
Deiner Hüften sanftes Biegen
Scheint verliebt in deine Brust,
Du erfüllst den Pfühl voll Lust
Durch dein schmachtendes Dich schmiegen.
Manchmal, die geheime Glut
Deiner Raserei zu stillen,
Häufst du ohne Sinn und Willen
Kuss und Biss voll Liebeswut
Und zerreisst zu andern Malen
Mir die Brust mit Spott und Scherz,
Senkst dann lächelnd in mein Herz
Blicke sanft wie Mondesstrahlen.
Unter deinen Atlasschuh,
Unter deinen Fuss aus Seiden
Werf ich mich, mein Gluck, mein Leiden
Alles, was ich bin und tu.
Auch dies Herz, das einst geblutet,
Bis dein Leuchten Heil gesandt,
Bis du mein sibirisch Land
Wie ein Feuerstrom durchglutet!
Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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