Herbstgesang

I

Bald wird man uns ins kalte Dunkel drängen;
Fahr wohl du Licht, du flüchtige Sommerwelt!
Schon hör‘ ich, wie im Hof mit dumpfen Klängen
Das Holz erdröhnend auf das Pflaster fällt.

Nun dringt der Winter ein. Und kein Erretten!
Zorn, Schauder, Hass, erzwungner Arbeit Pein;
Der Sonne gleich in des Polarlands Ketten
Wird bald mein Herz ein eisiger Klumpen sein.

Der Scheite Fallen lässt mich fröstelnd schauern;
Kein Mordgerüst, das dumpfer widerhallt.
Mein Geist bebt wie ein Turm, an dessen Mauern
Der Stoss des Widders unermüdlich prallt.

Mir scheint, von diesem hohlen Lärm benommen,
Als ob in Hast, – für wen? – den Sarg man baut,
Sommer war gestern, Herbst ist heut gekommen,
Und Abschied heisst der rätselhafte Laut.

II

Wohl lieb‘ ich deiner Augen grünen Schimmer,
Du Süsse, aber heut wird alles schwer,
Nicht deine Liebe, nicht Kamin und Zimmer
Ersetzt mir heut das sonnbestrahlte Meer.

Und doch lass mir dein zartes Herz erblühen,
Sei Mutter du dem Frevler irr und krank;
Geliebte! Schwester! Sei das sanfte Glühen
Des flüchtigen Herbst’s, der Sonne, die versank.

Nur kurze Müh! – Hörst du mein Grab bereiten?
Die heisse Stirne ruht auf deinen Knien.
Des fahlen Sommers Glut fühl‘ ich entgleiten,
Sanft goldnen Herbst durch meine Seele ziehn.

Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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