••• Weltenbummler Paco, a.k.a. Frank Fischer, wohlbekannt u. a. vom »Umblätterer« und als Autor der »Südharzreise«, lebt und wirkt derzeit in – drumroll – Moskau und zwar als Associate Professor an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät. Wenn ich nicht ganz irre, nennt sich der Lehrstuhl auf gut Russisch »Digitial Literary Studies«. Und genau in diese Forschungskerbe schlägt das Web- und Software-Projekt TIWOLI. Oder lugt es vielmehr aus ihr heraus? Paco nennt es ein Beiprodukt der Forschung. TIWOLI ist ein Akronym und steht für: Today in World Literature.
Je mehr Literatur in digitaler Form vorliegt, desto mehr wissenschaftliche Fragen lassen sich beantworten, die im Analogzeitalter nicht in endlicher Zeit untersuchbar waren. Einige dieser Fragen oder vielmehr die Antworten auf sie sind auch einfach nur unterhaltend. TIWOLI beispielsweise beschäftigt sich mit der Frage, welche expliziten Datumsangaben in welchem Kontext in der Weltliteratur gegeben werden.
Dem einen oder anderen Belesenen fällt da spontan wohl noch der Bloomsday ein, der 16. Juni, an dem sich die Geschehnisse aus dem »Ulysses« von James Joyce zutragen. Weniger geläufig dürfte das Datum sein, an dem Robinson Crusoe auf seiner Insel strandete oder an welchem Tag Goethes »Junger Werther« sich entleibte.
In digitalisierter Literatur lässt sich vortrefflich suchen, und so haben die TIWOLI-Kämpen die digitalisierte Weltliteratur nach Datumsangaben durchkämmt und aus dem Forschungsergebnis eine Art digitalen Abreißkalender zusammengestellt. Ich kann mich gar nicht daran erinnern, wann ich zuletzt einen solchen Abreißkalender gesehen, geschweige denn einen besessen habe. Aber ich erinnere mich noch gut, dass während meiner Kindheit immer einer in der elterlichen Küche hing. Morgens zum Frühstück durfte man das Vortagesblatt abreißen und konnte lesen, was auf dessen Rückseite vermerkt war. Häufig waren es literarische Zitate.
Heutzutage verwendet man eine solche Datensammlung lieber für ein Weblog-Projekt. Der tägliche Beitrag löst das dünnpapierne Kalenderblatt ab. Oder aber man baut eine Kalender-App zum Nachschlagen. Der Datenkorpus des TIWOLI-Projektes ist in eine solche App für Android und iOS eingeflossen. Geboten werden zu jedem Datum passende literarische Zitate, wahlweise in Deutsch, Englisch oder Spanisch.
Wie ich eben lese, haben es sich einige Geisteswissenschaftler der Uni Köln zur Aufgabe gemacht, auch ein Web-Interface für TIWOLI zu entwickeln. Ich habe mir eingebildet, es gäbe auch ein TIWOLI-Blog. Aber wohl doch nicht. Sind Blogs schon so out? Zu schade. Ein Weblog könnte mir das tägliche Kalenderblatt auch per Mail zusenden…
Und warum, frage ich mich gerade, nicht tatsächlich auch eine analoge Ausgabe auf Papier als Abreißkalender?
Man sieht schon, dass in manchen Wissenschaftlern auch Spielkinder stecken. Gott sei Dank!
Übrigens findet auch »Das Alphabet des Rabbi Löw« in TIWOLI Erwähnung und zwar unter dem 12. Oktober. Was da los war? Na, ich musste selbst nachsehen.
Nein, es war nicht nur das Gesicht der Eva Marková, das Rottenstein plötzlich wieder so deutlich vor Augen hatte, als stünde sie leibhaftig vor ihm. Der Zettel, den er gerade aus Procházkas verbeulter Blechdose gezogen hatte, lag vor ihm auf dem Tisch, und er starrte auf das vergilbte Papier wie auf eine Kinoleinwand.
Sich selbst sah er, wie er, vom Muzeum herkommend, den Wenzelsplatz hinunterschlenderte, vor einem Schreibwarengeschäft haltmachte, hineinging und ein Notizheft kaufte. Er schlug es auf und schrieb auf die Innenseite des Umschlags: Prag, 12. Oktober 1987 – sein zwanzigster Geburtstag.
Jacoby, hatte er mir morgens, noch im Schlafanzug, feierlich eröffnet: Eva kommt erst am Abend. Ich habe etwas Wichtiges vor. Das muss ich allein erledigen.
Ich war natürlich neugierig. Doch er sagte keinen Ton. Und erst jetzt, da es längst zu spät ist, weiß ich, welche Dummheit er an jenem Tag verbrochen hat. War er meschugge? Er glaubte nicht an Wunder, aber wollte welche sehen. Ich verstehe es bis heute nicht.
Sein zwanzigster Geburtstag, hatte er sich vorgenommen, sollte ein besonderer Tag werden. Nur deswegen war er nach Prag gekommen. Von wegen Hoschanna Rabba und so weiter, alles nur Vorwand. Das Eigentliche spielte sich an jenem 12. Oktober ab.
Rottenstein besuchte Rabbi Löw, und zwar auf dem Friedhof.
Am 1. Dezember 2016 um 18:09 Uhr
Inzwischen – schreibt mir Paco eben – gibt es auch die Web-App und den Eintrag zum Rabbi gibt es »» hier.