••• Mit großer Freude habe ich für den WDR ein Buch aus dem Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag gelesen und besprochen. Amos Oz schreibt in »Juden und Worte« gemeinsam mit seiner Tochter, der Historikerin Fania Oz-Salzberger, u. a. über die enge Verbindung zwischen Worten und dem Überleben durch Erinnerung. Die Sendung »Sprechstunde« kann man »» hier nachhören, den Beitrag über »Juden und Worte« ab 17:10.
Wir Juden sind bekannt dafür. dass wir unmöglich irgend etwas zustimmen können, das mit »wir Juden« anfängt. […] Aber praktisch jedes rechthaberische jüdische Individuum hat etwas zu sagen, das mit der ersten Person Plural beginnt. Wir auch.
Wir, das ist in diesem Fall ein Autoren-Duo aus Vater und Tochter: der Autor Amos Oz und seine Tochter, die namhafte Historikerin Fania Oz-Salzberger. Gemeinsam haben sie einiges zu sagen über »uns Juden«, und sie machen ihre Worte in bester jüdischer Tradition an Worten fest. Auf Einladung der Yale University und der Posen Foundation haben sie sich bereit erklärt, einen umfassenden Essay als Eröffnungsband zur »Posen Library of Jewish Culture and Civilization« beizusteuern, einer zehnbändigen Sammlung der wichtigsten jüdischen Texte aus den letzten 3.000 Jahren. Das sind viele Worte; und entsprechend nennen Vater und Tochter Oz ihren Beitrag treffend »Juden und Worte«. In einer sehr erfrischenden Übersetzung von Eva-Maria Thimme ist der Band im Jüdischen Verlag im Suhrkamp Verlag nun auch auf Deutsch erhältlich und unbedingt lesenswert.
Auf knapp 290 Seiten liefern die Autoren im Grunde gleich vier Essays, die nicht alle gleichzeitig entstanden sein dürften, für diesen Band jedoch sinnvoll zusammengefügt worden sind. Den Autoren geht es zunächst um die Frage, ob man die Juden zu Recht als das »Volk des Buches« bezeichnet. Aber ja, sagen sie und treten umgehend den Beweis an, indem sie einen der ältesten jüdisch-mystischen Texte zitieren, das »Sefer Yezira«, zu Deutsch: »Buch der Schöpfung«. Demzufolge fußt die gesamte Schöpfung auf drei Büchern (Sefarim): Buchstabe, Zahl und Mitteilung. Durch deren Gebrauch kam alles ins Sein, und nur durch ihren Gebrauch bleibt die Schöpfung bestehen. Wichtiger kann man Worte, ja jeden einzelnen Buchstaben, nicht nehmen.
Kontinuität im Judentum war immer an verbal geäußerte und geschriebene Worte geknüpft, an ein ausuferndes Geflecht von Interpretationen, Debatten und Meinungsverschiedenheiten sowie an ganz einmalige zwischenmenschliche Verhältnisse. In Synagoge und Schule, vor allem aber zu Hause, umfasste es zwei oder drei ins Gespräch vertiefte Generationen. Was uns verbindet, sind nicht Blutsverwandtschaften, sondern Texte.
Zu Zeiten als Alphabetisierung noch für den größten Teil der Gesellschaft Luxus darstellte, gehörte Lesenkönnen zur Grundvoraussetzung eines jeden jüdischen Kindes auf dem Weg des Erwachsenwerdens. Die Autoren sehen darin eine Strategie des »Überlebens durch Erinnerung«, von Generation zu Generation, verordnet bereits durch die Torah, die von Eltern fordert, ihren Kindern zum Zwecke des Überlebens das Schwimmen ebenso beizubringen wie Lesen und Schreiben. Erinnerung, das meint hier vor allem Erinnerung an Geschichte, wie sie die Torah, die Propheten und die Bücher der Schriften wiedergeben, aber auch Erinnerung an die Debatten über diese Texte, wie sie in den ursprünglich mündlich überlieferten und erst relativ spät schriftlich niedergelegten Diskussionen des Talmuds zu finden sind. Das, zeigen die Autoren, ist ein Fundament, auf dem sich bauen und leben lässt. Anhand der besten Beispiele geben sie eine begeisternde Einführung in das jüdische Schrifttum und demonstrieren nebenher noch die zweite wesentliche Zutat des Konzepts: nämlich die Art des Lesens, die immer aktive Auseinandersetzung mit dem Text bedeutete, Diskussion zwischen den Generationen, zwischen Lehrer und Schüler, Eltern und Kindern.
Was aber, fragen die Autoren dann, können uns diese Texte heute noch geben? Bedeutet Beschäftigung mit ihnen nicht lediglich noch Beschäftigung mit der Vergangenheit? Keineswegs, meinen sie und zeigen mit Engagement, dass es sich tatsächlich um ein zeitloses Fundament handelt, das über die Jahrhunderte immer wieder als Absprungbrett für kühne Interpretationen des Jetzt taugen konnte und noch immer taugt. Denn wenn es sich auch um religiöse Texte handelt, seien sie keineswegs auf Religiöses beschränkt. Davon ausgehend landen die Autoren schließlich bei der vielleicht spannendsten Fragestellung des Buches: Brauchen die Juden das Judentum? Brauchen sie es im Sinne einer Religionsgemeinschaft?
Dass es sich bei den Autoren um in den religiösen Texten sehr erfahrene, dabei jedoch säkular eingestellte Juden handelt, daran lassen sie vom Vorwort an keinen Zweifel. Dass sie sich im letzten Teil des Buches zu der These aufschwingen, dass das Konzept des »Überlebens durch Erinnerung« auch ohne Religion und religiöse Traditionen weiterhin für den Fortbestand jüdischer Identität taugen kann, erstaunt dann aber doch.
Im heutigen Israel und auch sonst in der Welt [meinen] orthodoxe Juden […] dass man Religion nicht von Nationalität oder beide nicht von Traditionen und Brauchtum oder diese wiederum nicht von Kleidung oder Kleidung nicht von Gebräuchen oder Gebräuche nicht vom blinden Gehorsam gegenüber den Rabbinern trennen könne. Derweil bewegen sie sich durch die Welt in der Kleidung des polnischen Adels aus dem 17. Jahrhundert, singen wunderschöne chassidische Lieder, die auf typisch ukrainische Melodien zurückgehen, und tanzen ekstatische ukrainische Volkstänze. Sie setzen sich mit uns säkularen Juden auseinander – wenn man Glück hat nach der Logik von Maimonides, die auf Aristoteles fußt – oder greifen andererseits die Labilität unserer nationalen Staatstreue mit Argumenten an, die sie dank Rabbi Kook von Hegel bezogen haben.
Das Aramäische im Babylonischen Talmud, stellen die Autoren mit Recht fest, stamme nicht von den Juden, sondern von den Aramäern. Auch die aristotelische Logik sei zugeeignet. Nicht einmal die Mesusa an den Türpfosten jüdischer Häuser sei eine jüdische Erfindung, sondern zumindest der Form nach ein persisches Überbleibsel. Die wesentliche Kraft habe immer in der Fähigkeit zum Austausch mit und der Aufnahme von Fremdem gelegen. Und damit begründen die Autoren ihre These: Solange die Verbundenheit mit den Texten nicht verloren gehe, die Diskussion darüber und die Einbeziehung von Fremdem und heutigem Neuen in diese Debatte – so lange funktioniere das identitätsstiftende Prinzip. Auch ganz ohne Religion.
Diese Meinung mag ich nicht teilen, aber sie zurückzuweisen, fällt nach der Lektüre dieses engagierten Buches nicht leicht.