Geistige Morgenröte
Wenn an des Wüstlings Bett die bleiche Frühe
Gemeinsam tritt mit nagend bittrer Not,
Dann scheint’s, als ob nach rächendem Gebot
Im dumpfen Tier ein Engel neu erblühe.
Der fernen Himmel unerreichbar Blau
Winkt ihm, auf dem noch Traum und Leiden wuchten,
Es öffnet sich und lockt wie tiefe Schluchten.
Und so, du göttlich reine, zarte Frau,
So flattert über toller Feste Trümmer
In ewiger Klarheit, rosig, licht und mild
Vor meinem weiten Blick dein leuchtend Bild.
Die Sonne löscht der Kerzen matt Geflimmer,
So siegst auch du, – durch dumpfen Nebel bricht
Dein strahlend Herz: unsterblich Sonnenlicht!
Charles Baudelaire
aus: „Les Fleurs du Mal – Die Blumen des Bösen“
Übertragung: Therese Robinson
© Georg Müller Verlag München (1925)
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