••• Gestern wurde ich freudig überrascht. Ich lag angekränkelt im heißen Badewasser und las die aktuelle »Volltext«. Mit diebischem Vergnügen stieg ich ein mit »„Kitsch“ ist die deutsche Wortwaffe schlechthin«, Julia Francks wehrhafter Erwiderung auf die fragwürdige Kritikerschelte für ihren aktuellen Roman »Rücken an Rücken«.
Es heißt ja, man solle die Klappe halten, auf Kritiken grundsätzlich nicht reagieren. Da ist Vernünftiges dran, aber eben auch viel Opportunismus, der sich daraus erklärt, dass wir Autoren mit den Rezensenten in einer Art unseligen Abhängigkeitsverhältnis stehen. Ein Buch, das nicht besprochen wird, ist wie nicht existent, Beschwiegenwerden, Verschwiegenwerden für Autoren also existenzbedrohend. Dem Rezensenten, selbst dem unfähigsten, bieten sich allzu viele alternative Möglichkeiten; man kann ja andere und anderes besprechen. Was nun hier in der aktuellen »Volltext« geschieht, dreht den Spieß aber um: Mit deutlichen und fundierten Worten bekommt der Kritiker, was er in diesem Fall auch verdient. Da es in dieser Form und in dieser Zeitschrift geschieht, handelt es sich nicht um narzisstische Moserei, sondern um Diskurs im Sinne der Sache. Das gefällt mir außerordentlich. Autoren, wenn sie so sorglos und unreflektiert behandelt werden, trifft es jeweils in ganzer Person und Werk. Wann kommt es schon einmal vor, dass ein Kritiker für Schlamperei und Oberflächlichkeit ebenso mit vollem Namen einstehen müsste, dass man es ihm und damit ihn selbst vorführt?
Ich kenne die Situation aus meiner eigenen Zeit als Journalist: die Zeit ist immer zu knapp, die Begeisterungsfähigkeit schwankend, das eigene Arbeitsethos an manchen Tagen schwer erodiert. Und eigentlich – zumal wenn es sich um Print-Journalismus handelt – muss man sich kaum fürchten vor den Folgen des eigenen Tuns. Selbst über den Abdruck etwaiger harscher Leserbriefe entscheidet ja noch die Redaktion. Es erhöht den Druck, wenn man annehmen muss, dass die eigene Arbeit ebenso unter die Lupe genommen werden kann, wie man die Arbeit der Autoren doch eigentlich unter die Lupe nehmen sollte. Ein wenig mehr davon könnte der Kritikerzunft nicht schaden. (Mir kommt gerade in den Sinn, dass ein Kritiker-Blog nach dem Vorbild des BILD-Blog gar keine schlechte Idee wäre …)
Julia Franck und »Volltext« beweisen hier jedenfalls Mut und mahnen letztlich für uns alle mehr Reflektiertheit und Sorgfalt im Kritikwesen an. Chapeau dafür.
Derart erfreut las ich anschließend mit Staunen erstmalig von der Literatur Raymond Roussels. Thomas Stangl stellt Roussel und sein Werk auf drei Seiten eindrucksvoll vor. Das muss man selbst und in Gänze lesen, denn Stangls Ausflug in Roussels Literatur ist selbst Literatur. Ich blätterte weiter: Karl-Heinz Ott, Kafka, Marlene Streruwitz, Frau Lewitscharoff – doch halt: nochmal zurück; da war doch was dazwischen?
Richtig. Unter der Überschrift »Des Teufels Labyrinth« schreibt Alban Nikolai Herbst über »Replay«:
Dies ist keine Science Fiction. Gute Science Fiction ist das aber nie. Vielmehr gewandet sie die Gegenwart fremd, scheinfremd, um ihr so besonders nahe zu rücken. […] Das Buch trinkt sich wie an heißen Tagen Limonade, von einer »Anstrengung des Begriffs« keine Spur. Doch wer sich auf die maniera konzentriert, merkt schnell, wie viele doppelte Böden hier eingelassen sind, und wie radikal die Kritik ist, die sich von den liebevollen Schilderungen dieses, so kann man ihn ebenfalls interpretieren, Entwicklungsromans mittragen lässt.
Diese Besprechung hat mich ebenso tief gefreut wie jene von Christian Metz kürzlich in der FAZ. Weil Herbst das Buch in seinen Schichtungen durchleuchtet, in den intendierten Kontext stellt, das Buch intellektuell und emotional versteht und das, was er vorgefunden hat, auch noch rezensierend zum Leser zu transportieren versteht, ohne Handlung nachzuerzählen und die Lektüre zu »verspoilern«. Mehr kann man sich als Autor nicht wünschen. Natürlich erleichtert es, wenn der Rezensent derart Gelingen attestiert. Aber auch die Kritik, die Herbst durchaus anzumelden hat, bekommt vor dem Hintergrund einer solchen tatsächlichen Auseinandersetzung ein ganz anderes Gewicht:
Nur selten ist Stein verführt, doch mal ein wenig zu dozieren, also den Vorhang des Unterhaltungsgenres beiseite zu ziehen. Das drängt sich aber nirgends vor, bleibt im Wortsinn eingebettet, etwa, wenn Rosen nicht aufstehen mag und im noch halben Träumen vor sich hinsinniert, sodass die ansonsten sehr schnell vorangetriebene Handlung momentlang erinnerungsstockt. Deren Nachteil allerdings ist der Verzicht auf poetische Sätze, ja, auf Aura. Vielmehr ist der Sprachklang in Replay so durchweg pragmatisch wie in jedem Unterhaltungsroman.
Dies fand ich spannend, denn es handelt sich hier ja um ein Resultat der angewandten Methode: Rosen bedient sich der Sprache, über die er verfügt. Er ist Softwareentwickler und »Minister«, Leitwolf einer Corporation, über die er selbst sagt: »Wir sind Dienstleister, informieren, helfen und unterhalten.« Die Poesie spielt sich hier wie in einem gelungenen Softwaresystem in der Struktur ab. Die Schönheit von Code liegt nicht im Wortklang, sondern in der Struktur und der Gestalt dessen, die vom System in der Ausführung aus diesem Code ersteht. Insofern ist das Manko, das Herbst konstatiert, unausweichliches Resultat der von mir verfolgten Methode. Aber ich verstehe, dass dem Leser (und Rezensenten) hier etwas fehlt zum ganzen Glück. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, ob man bei dieser Art des Erzählens nicht vielleicht grundsätzlich mehrere Stimmen montieren, mehrere Erzähler zu Worte kommen lassen sollte. Im »Anderen Blau« etwa ist dies augenscheinlich: Da stehen die jugendlich naiven Erzählungen Ninas neben den schwermütig poetischen Daniels und den oft zynisch-analytischen Richards und treffen auf die aus Traum und Wahn zusammengebrauten, in Bildern badenden Schilderungen von Nadia. Der auktoriale Erzähler hat dieses »Problem« natürlich nicht; er ist immer Autor(in), Dichter(in). Für mich ist er dennoch begraben, und ich will den Modernden nicht wieder ausgraben. Es wäre auch langweilig, nur noch Literaten oder (wie Herbst es in »Meere« vorführt) Universalkünstler erzählen zu lassen. Um auch den poetischen, den sprachlichen Reiz zu haben, könnte man aber auf Mehrstimmigkeit setzen und auf Kompositionen, die diese Stimmen zu einer Gesamterzählung verweben.
»Volltext«, diese Empfehlung gilt ja schon lange generell, sollte man lesen. Es lohnt einmal mehr von der ersten bis zur letzten Seite. Entdeckungen, Denkstoff und Vermehrung der Einsichten nebst ein wenig Schadenfreude sind der Lohn.
Am 4. April 2012 um 11:41 Uhr
Naja, Julia Franck war jahrelang eine der Lieblinge des Feuilletons; ihre eher mittelmässigen Bücher (die allerdings einige Bedingungen der zeitgenössischen Kritik erfüllten) wurden enorm gepusht. Dann gibt es in ihren Augen unzutreffende Kritiken und es wird gleich eine „Blogwartmentalität“ konstatiert.
Natürlich: In der Sache trifft Franck durchaus oft genug den Punkt. Besonders neu ist das alles aber nicht; man lese Handkes Polemik gegen Reich-Ranicki Ende der 60er Jahre.
Die Behandlung des Stereotyps des Kitsches ist dann ja noch gelungen. Aber als dann in gutem alten 68er Duktus der Spießer herausgeholt wurde, war’s dann doch eher peinlich. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Julia Franck einfach nur beleidigt ist.
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Die Idee eines Literaturwatchblogs ist gut, aber schwierig umzusetzen. Ästhetische Urteile können schwerlich Faktenprüfungen unterzogen werden. Im übrigen müsste ein solcher Blog nach beiden Seiten „austeilen“, d. h. auch die Lobhudeleien analysieren. (Auf gelegentliche Versuche auf meinem Blog nur der Hinweis in Klammern.)
Am 4. April 2012 um 12:53 Uhr
Die Winkels-Kritik, um die es hier geht, war in der Tat eine Ungeheuerlichkeit. Ich sehe hier nicht Beleidigtsein als Anlass, sondern berechtigte Empörung über eine journalistische Entgleisung. Und das geschieht diskursiv. Mir gefällt das.
Ein solches Watchblog soll natürlich nicht ästhetische Urteile angreifen. Es sind ja aber zumeist keine ästhetischen Urteile sondern geschmäcklerische Verdikte auf der Basis einer sehr sehr häufig ganz offensichtlich schlampigen Lektüre. Wie der Autor soll auch der Kritiker seine Arbeit ernst nehmen und gewissenhaft tun. Mehr verlangt niemand.
Am 4. April 2012 um 13:00 Uhr
Im übrigen halte ich »Rücken an Rücken« für Julia Francks zumindest zweitbestes Buch, in dem sie als Autorin eine wichtige Entwicklung nimmt, was Sprache und Gestaltungsformen angeht. Dieses Buch lässt mich mit Spannung erwarten, was sie noch vorlegen wird.