Wir – Leser, Schriftsteller, Kritiker – leben, lesen und schreiben schon lange in einer literarischen Epoche und wissen es nicht. Vielleicht ahnen wir es, […] Aber dass die besten Romane der letzten fünfundzwanzig Jahre mehr verbindet als ihre Qualität, kam, glaube ich, noch keinem von uns in den Sinn.
••• Seit den Skizzen zu meinem ersten Roman »Der Libellenflügel« (1987) beschäftigt mich das Erzählen in der 1. Person. Ich sagen. Ein Ich erzählen lassen. Im »Alphabet des Juda Liva« bin ich, so sehe ich es heute, auf Abwege geraten. Heute kann ich mir nicht mehr vorstellen, vom Ich in der Prosa abzugehen. Schon damals habe ich die Weltliteratur durchforstet nach großen Ich-Erzählungen, und ich wurde fündig. Über alle Epochen hinweg kann man fündig werden.
Maxim Biller schreibt nun in der FAZ über die großen Ich-Erzählungen der letzten Jahrzehnte. »Ichzeit« sei, stellt er fest und glaubt, eine unter dem Ich stehende literarische Epoche ausmachen zu können.
Ist es nicht normal, dass Autoren ihre Erfahrungen verarbeiten? Ja, aber nicht gleich alle und nicht gleich alle so intensiv. Und es gibt eine weitere Gemeinsamkeit: Fast jedes der bedeutenden deutschen Bücher der vergangenen Jahre kommt in der ersten Person Singular daher – oder zumindest ist der Protagonist dem Autor zum Verwechseln ähnlich. Das ist kein Zufall. Nur ein kräftiges Erzähler-Ich kann die faszinierende, den Leser mitreißende Illusion erzeugen, dass der Erzählende und der Schreibende ein und dieselbe Person sind.
Billers Artikel hat Manifest-Charakter. Tatsächlich bringt er einige der wesentlichen Argumente, die für ein Ich-Erzählen sprechen. Allerdings verbindet er mit dem Begriff viel mehr und für meinen Geschmack zu viel. Er beruft sich auf Rainald Goetz‘ Klagenfurt-Auftritt mit blutender Stirn:
Er stellte seine ganze verletzende und verletzliche Person stolz ins grelle öffentliche Licht. Er zeigte, wie ein irrer Aktionskünstler oder verzweifelter Popstar, dass es für ihn keinen Unterschied gibt zwischen seinem Leben und seinem Werk.
Das wäre dann tatsächlich eine Art Literatur, wie man sie nicht über alle bisherigen Epochen hinweg finden kann.
Ich möchte nach wie vor nicht jedes meiner Bücher durchleb(t hab)en müssen. Allerdings bin ich auch nach wie vor unsicher, ob es vermeidbar ist.
Am 24. Oktober 2011 um 10:25 Uhr
Der Artikel läßt mich etwas ratlos zurück. Natürlich gibt es diesen Drang zur „Ichzeit“ – nicht zuletzt, weil der Mainstream der Literaturkritik immer zielstrebiger nach Parallelen zwischen Autorenbiografie und Werk sucht und darüber häufig die ästhetisch-literarische Betrachtung vernachlässigt. Aber Biller blendet eine Epoche aus, die schon einmal das „Ich“ in den Vordergrund schob: die sogenannte „Neue Innerlichkeit“ oder, wie Reich-Ranicki das nannte, „Neue Subjektivität“ in den 1970er Jahren. Auch hier war man sehr bemüht um „Authentizität“ und experimentierte mit stilistischen Mitteln. Es betrat die Generation die Literaturbühne, die mit ihrer relativen Erlebnisarmut (im Vergleich zu ihren Eltern) reflexiv auf die Welt reagierte; zuweilen mit starken politischen Tendenzen. Mit dieser Erlebnislosigkeit begründete noch 2005 oder 2006 im Rahmen einer Diskussion die damalige Jurorin Iris Radisch die gewisse Ereignislosigkeit der vorgestellten Texte (eine Formulierung, die ich interpretierend und aus der Erinnerung gebrauche). Die Klagenfurt-Klage, es hieße immer nur Ich, Ich, Ich, ist ja schon fast Tradition. Entscheidend ist aber doch, wie dieses Ich agiert.
Damals wie heute ging es aber nicht um platten „Realismus“. Da hat Biller, der mit dem Vorwurf eines allzu nahen Realismus sehr schlechte Erfahrungen gemacht hat, recht. Und er benennt einige Beispiele. Ich kenne nicht alle diese Bücher, aber es ist interessant, dass er Tellkamps „Turm“ in die Kategorie der „Ichzeit“-Literatur einordnet. Aber noch interessanter ist Billers über die Hintertür eingeführte politische Konnotation, die augenscheinlich eine wichtige Rolle spielt. Hier schlägt sich dann doch eine Brücke: Die neue „Ichzeit“-Generation sind die in den 70/80ern Sozialisierten. Aber: Ist das wirklich alles so neu?
Am 24. Oktober 2011 um 17:33 Uhr
Das ist eine Frage Benjamin,
bist Du näher am Text wenn du in Ich-Form schreibst, oder
näher bei Dir?
Am 24. Oktober 2011 um 18:09 Uhr
Näher an der Figur, die spricht, würde ich sagen. Manchmal so nah, dass es zu Vermischungen kommt.
Am 24. Oktober 2011 um 19:07 Uhr
Bei Gräfin Franziska zu Reventlow war das ICH-erzählen so nah bei ihr, dass manchmal wenn sie einen Roman zu Ende geschrieben hatte, der Gerichtsvollzieher an der Türe geklingelt hatte, genau wie in Ihrem Roman
Am 24. Oktober 2011 um 23:03 Uhr
Ich kann oft die Figur vom Schriftsteller nicht unterscheiden. Das geht soweit, dass ich mich manchmal wundere, was er alles so erlebt hat. ;)