••• Im Winter 1985/86 sollte Italo Calvino in Harvard eine Poetik-Vorlesungsreihe bestreiten, die Charles Eliot Norton Poetry Lectures. Es kam nicht dazu, da Calvino im Februar 1985 starb. Fünf der geplanten sechs Vorlesungen hatte er jedoch bereits ausgearbeitet. Sie sind postum 1988 unter dem Titel „Lezione americane…“ erschienen. Hanser legte sie 1991 unter dem Titel „Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend“ in der deutschen Übersetzung von Burkhart Kroeber vor.
Einen frühen Entwurf für die erste Vorlesung, den Calvino verwarf, um stattdessen mit Betrachtungen über „Leichtigkeit“ in die Vorlesungsreihe einzusteigen, findet man in der aktuellen Ausgabe von Akzente (5/2007). Er trägt den Titel „Anfangen und beenden“.
Einen Vortrag anzufangen, gar einen Vortragszyklus, ist ein entscheidender Augenblick, wie wenn man einen Roman zu schreiben beginnt. Man steht vor folgender Wahl: Wir haben die Möglichkeit, alles zu sagen, in allen möglichen Welten, und wir müssen es schaffen, etwas auf eine besondere Weise zu sagen.
Ausgangspunkt meiner Vorträge wird daher dieser für den Schriftsteller entscheidende Augenblick sein: das Abrücken von der unbegrenzten und vielförmigen Möglichkeit, um etwas zu finden, das noch nicht existiert, aber nur existieren können wird, wenn man sich an bestimmte Grenzen und Regeln hält. Bis zu dem Augenblick unmittelbar bevor wir zu schreiben beginnen, steht uns die Welt zur Verfügung — das, was für jeden von uns die Welt ausmacht, eine Summe von Informationen, Erfahrungen, Werten —, die Welt als ein Ganzes, ohne Vorher und Nachher, die Welt als individuelles Gedächtnis und implizite Möglichkeit, und wir wollen dieser Welt einen Diskurs, eine Erzählung, ein Gefühl abgewinnen; oder vielleicht genauer: wir wollen eine Operation vollführen, die uns erlaubt, uns in dieser Welt zu situieren. Alle Arten von Sprache stehen uns zur Verfügung: die elaborierten Sprachen der Literatur, die Stile, in denen sich Kulturen und Individuen in den verschiedenen Zeiten und Ländern ausgedrückt haben, auch die elaborierten Sprachen der verschiedensten Disziplinen, mit dem Ziel, die verschiedensten Formen von Erkenntnis zu erreichen, und wir wollen ihnen diejenige Sprache abgewinnen, die am besten geeignet ist, das zu sagen, was wir sagen wollen, die Sprache, die ist, was wir sagen wollen.
Der Anfang ist jedesmal dieser Moment des Abrückens von der Vielfalt des Möglichen: für den Erzähler das Abstandnehmen von der Vielzahl möglicher Geschichten, um die einzelne Geschichte, die er zu erzählen beschlossen hat, zu isolieren und erzählbar zu machen; für den Dichter das Abstandnehmen von einem Gefühl der undifferenzierten Welt, um einen Einklang von zusammentreffenden Wörtern zu isolieren und mit einem Gefühl oder einem Gedanken zu verbinden.
Ausserdem in den aktuellen Akzenten: Hans Bender, Harald Hartung, Wolf Wondratschek, Cees Nooteboom (mit Gedichten!), Kito Lorenc, Albert Ostermaier, Michel Lentz, Walle Sayer, Barbara Peveling, Michael Buselmeier und — László Krasznahorkai mit einer Erzählung.
Am 15. Oktober 2007 um 17:55 Uhr
Ein Buch, das ich einmal Wort für Wort lernen sollte, um es jederzeit lesen zu können : Italo Calvino Herr Palomar. – beste Grüße.
Am 15. Oktober 2007 um 17:58 Uhr
Leider war diese Vorlesung das erste, was ich überhaupt von Calvino gelesen habe. Danke für den Tip. Ich werde mich kundig machen.
Am 15. Oktober 2007 um 18:04 Uhr
mein persönlicher favorit von calvino: der baron auf den bäumen. ein wundervolles buch.
Am 15. Oktober 2007 um 18:49 Uhr
So gefällt mir das Turmsegeln. Man tippt euch an, und ihr sprudelt Empfehlungen. Sehr geschätzt!
Am 15. Oktober 2007 um 18:50 Uhr
@Benjamin:
Musst halt mal rüber an mein Bücherregal kommen. ;)
Am 15. Oktober 2007 um 18:51 Uhr
Das trau ich mich nicht. Du müsstest Aufkleber anbringen, welche davon ich lesen darf. (Nicht schlagen…)
Am 15. Oktober 2007 um 19:03 Uhr
Wenn ein Reisender in einer Winternacht.
sooooo wunderbar
Am 15. Oktober 2007 um 19:07 Uhr
Dann wären da noch: „Der Ritter, den es nicht gab“, „Der geteilte Visconte“ und natürlich, ebenso wunderbar wie „Wenn ein Reisender in einer Winternacht“, „Die unsichtbaren Städte“.
Und wer experimentelle Literatur mag: die „Cosmicomics“.
(Im Stil und in der Form sind die Werke alle sehr unterschiedlich. Jedes eine Bereicherung.)
Am 15. Oktober 2007 um 19:15 Uhr
Die alten DARFST Du alle lesen. Ich mag es nur nicht wenn Du mir meine neuen Bücher aus der Hand reisst, die ich selbst noch nicht angeschaut habe. :D
Am 19. Oktober 2007 um 15:53 Uhr
[…] einen guten Beginn, lässt das hoffen. (Erinnern wir uns kurz an Primo Levis nicht gehaltene Poetik-Vorlesung…) Einmal zumindest bin ich einem Autor – Cees Nooteboom – dabei in die Falle […]