Das Studio von Joseph Pilates in New York
Den Muskelzuwachs schrieb ich den Pushups zu, den Gewichtsverlust meinen veränderten Essgewohnheiten. Was allerdings die panische Verwandlung anging, die ich an meinem Körper beobachtete, verdankte ich sie zum größten Teil wohl vor allem der zweiten Komponente meines Trainingsprogramms: Pilates.
Zweimal pro Woche fuhr ich vor der Arbeit zu Katelyn. In ihrer bourgeois großzügigen Wohnung gab es einen mit Spiegelwänden ausgestatteten Raum. Das war, wie ich erst jetzt erfuhr, ihr Heiligtum, ihr Workout-Zimmer, das ich bis dahin nie zu sehen bekommen hatte. Der Raum war leer. Wenn ich kam, lagen auf dem Fischgrätenparkett lediglich zwei schwarze Matten und gelegentlich wechselnde einfache Hilfsgeräte, die alle den gleichen Zweck erfüllten, nämlich den Körper bei den Übungen zu destabilisieren, so dass jede Faser der Tiefenmuskulatur gefordert wurde, um den Körper im Gleichgewicht zu halten.
In meiner Ahnungslosigkeit hatte ich Pilates immer für eine Art esoterischen Mädchensport gehalten, Gesundheitsgymnastik, die noch dazu von einem deutschen Emigranten erfunden worden war, der seine Methode ohne jede Ironie Contrology getauft hatte, weil er darauf aus war, die Muskulatur der bewussten Kontrolle des Geistes zu unterwerfen. In einem jugenstilartig eingerichteten Studio in New York, wahrscheinlich dem ersten Gym der Welt, hatte Pilates in den roaring twenties mit Broadway-Tänzern trainiert, um sie von berufsbedingten Schmerzen durch Fehlbelastung und Überbeanspruchung zu befreien. Und das alles, während, wer immer es konnte, den Schatten der aufziehenden Wirtschaftskrise zu entkommen versuchte, in Speakeasies feierte und Charleston tanzte. Pilates war, wie ich fand, ein unzeitgemäßer Spartaner deutscher Prägung. Contrology? Ich schauderte. Das also stand mir bevor? Bestrafung durch Sport im vollverspiegelten Zuchthaus? Nein danke!
Blödmann! sagte Katelyn. Ich hätte ja keine Ahnung, wovon ich rede. Immerhin verdankte sie diesen Übungen ihren gestählten Körper, den ich so gern berührte und unermüdlich begeistert mit begehrlichen Blicken bedachte. Sie zeigte mir einige Übungen, die spielerisch leicht wirkten und weniger nach Sport als nach Tanz aussahen. Mir gelang es nicht einmal, die Grundstellung zu halten. Ich kam mir vor wie ein nasser Sack, ohne jede Kontrolle über die wachsenden Muskelpakete, und dann wieder wie ein Stück Holz, unbeweglich, steif, verspannt. Ich sah mich im Spiegel und erschrak über meine üble Haltung, den Rundrücken, den ich für ein unausschlagbares Erbe meiner Mütterlinie gehalten hatte.
Das alles aber, meinte Katelyn, würde sich ändern. Nach zehn Stunden, hätte Joseph Pilates gesagt, spüren Sie den Unterschied, nach zwanzig sehen Sie den Unterschied, nach dreißig haben Sie einen neuen Körper.
Ich blieb skeptisch. Aber ich hatte ohnehin keine Wahl. Schließlich hatte ich den Vertrag unterzeichnet, und der sah vor, dass ich dem Programm meiner Personal Trainerin zu folgen hatte. Also ließ ich mich einführen in die Urgründe dieser deutschen Kontrollgymnastik, wie ich die Pilates-Übungen insgeheim weiter nannte.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)
Am 15. Juni 2011 um 06:01 Uhr
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Am 27. Juli 2011 um 08:16 Uhr
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