Eben bin ich noch geschwebt, in einem nächtlichen Meer. Dunkel ringsum, nur weit über mir flirrte rund und fahl der Mond und warf einen schmalen Streif Licht herab, in dem das Plankton flimmerte wie eine Sternenschar. Ein gewaltiger Rochen segelte auf mich zu und über mich hinweg, so nah, dass ich von unten seinen weißen Bauch, die pumpenden Kiemen, das schmale Maul und die wie irr starrenden Augen sehen konnte. Beinahe hätte mich die Spitze einer Flosse gestreift. Ich ließ mich langsam, langsam nach oben treiben und tauchte auf. Windstill war es, und das wie bleiern ruhende Meer schien unendlich weit und schwarz. Ich schloss die Augen und ließ mich treiben. Das Schwarz wechselte nach und nach in ein tiefes und schließlich ein helleres Blau.
Und jetzt … dringt warmgelbes Licht durch meine geschlossenen Lider, als läge ich in der Mittagssonne auf einer Sommerwiese. Ich öffne die Augen, und die Wiese ist tatsächlich da. Ich liege nackt im Gras, und dicht neben mir liegen zwei Frauen, Katelyn und Lian. Auch sie sind nackt. Bauch an Rücken aneinander geschmiegt, lächeln sie versonnen im Schlaf, als schwelgten sie in zärtlichen Träumen…
Die Versuchung ist groß, die Hand auszustrecken, Katelyns Stirn zu streicheln, mit dem Finger ihre Brauen nachzuzeichnen oder die glänzende Strähne von Lians langem schwarzen Haar beiseite zu schieben, die wie ein Seidenband über ihrer Brust liegt. Aber es wäre vergeblich. Ich würde ins Leere greifen.
So gern ich sehe, was ich sehe, weiß ich doch: Es ist nicht real, sondern lediglich eine Erinnerung. Wir sind damals keineswegs auf einer Wiese erwacht, sondern in Katelyns rundem Bett. Die Nacht, die Lian mit Katelyn und mir verbracht hat, liegt gute fünfzehn Jahre zurück. Ich bin gealtert seitdem und Katelyn ebenso, und Lian haben wir beide, nachdem wir sie an jenem Tag verabschiedet hatten, nie wieder getroffen.
Es wäre ganz sicher vergeblich, die beiden berühren zu wollen. Ich kann sie sehen. Mehr ist nicht möglich. Denn was ich sehe, ist eine Filmsequenz, der festgehaltene Augenblick Glück, den mein UniCom für mich aufgezeichnet und aufbewahrt hat. Die Wiese inmitten einer verlassenen sommerlichen Hügellandschaft habe ich später hinzugefügt, und der so entstandene Clip ist mir einer der liebsten in meiner Bibliothek von Aufwachthemen, mein privates, mein geheimes Arkadien.
Jeden Morgen finde ich mich wieder in einem ähnlichen Glücksmoment, und die lebhafte Erinnerung an die womöglich weit zurückliegenden Sekunden des Glücks vermischen sich mit einer ganz aktuellen tiefen Zufriedenheit. Ich habe Phantastisches erreicht in meinem Leben. Und wunderbarerweise sind es gerade die Sekunden des Erwachens, die mich jeden Tag für die hinter mir liegenden Mühen belohnen.
Ich bin nie gern aufgestanden. Die Arbeit brachte es mit sich, dass ich kaum je ausschlafen konnte. Umso schwerer fiel mir das Aufstehen. Nichts war mir verhasster, als von einem nervigen Weckgeräusch aus dem Tiefschlaf gerissen zu werden und mich benommen im Dunkel wiederzufinden. Das ist vorbei, das liegt weit hinter mir.
Ich liebe, was wir geschaffen haben. Ich liebe das UniCom, und wenn ich entscheiden müsste, was ich am meisten an diesem technischen Wunderwerk liebe, dann dies: Dass ich jeden Morgen im Paradies erwache.
Ich übertreibe nicht. Keine Erinnerung geht mir verloren, die ich nicht selbst verloren gebe. Das UniCom sieht und hört, was ich sehe und höre, und bewahrt es für mich auf. Es überwacht meinen Schlaf. Es weiß, wann ich aufstehen müsste, und rückt die Weckzeit heran, aktiviert es in einer Traumphase, in der unser Schlaf am leichtesten ist, einen der von mir dafür vorgesehenen Clips. Was auch immer ich gerade geträumt haben mag, ich gleite sanft aus dem Traum hinüber ins Licht, in eine Erinnerung, die mir lieb ist, eine Erinnerung an einen Glücksmoment. Ganz gleich, wo ich mich befinde, ob es grauenvoll früh und draußen noch finster und kalt ist, das alles spielt keine Rolle. Ich erwache mit einem Lächeln.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)