Deep Blue

31. Januar 2011

••• Warum ausgerechnet Schach? Weil es ein strategisches Spiel ist. Das korrespondiert mit Strategien, wie sie Matana ganz offensichtlich in seinen Gesprächen verfolgt. Und außerdem wird Schach in einer Notation protokolliert, die einem Uneingeweihten nichts sagt. Mein Großvater, von dem ich Schachspielen lernte, konnte blind spielen. Er nahm Block und Stift und setzte sich mit dem Rücken zum Brett. Ich musste meine Züge ansagen. Er notierte sie und verkündete seine Erwiderung. Er hatte das Schachbrett »vor dem inneren Auge«.

Und damit steigen wir nun ein in die Partie zwischen Rosen und Matana…

 

Gestern allerdings wirkte Matana seltsam zerstreut, wie abwesend. Als wir uns ans Brett setzten, hatten wir noch kaum ein Wort gesprochen. Der Malt war eingeschenkt. Block und Stift lagen parat. Matana würde wie immer die Züge notieren, so dass wir die Partie im Nachhinein analysieren oder aber, sollten wir uns verplaudern und zu lange brauchen, beim nächsten soir fix fortsetzen könnten.

Wir losten die Farben aus. Matana streckte mir überkreuz seine Fäuste entgegen. Ich tippte auf die linke, und als er sie umdrehte und öffnete, kam der weiße Bauer zum Vorschein. Der erste Zug gehörte mir. Ich überlegte, ob ich den Damenbauern ziehen sollte, um Matanas angekündigte Eröffnungsstrategie von vornherein zu durchkreuzen. Aber es kam mir unsportlich vor, und so spielte ich e2-e4 und erwartete den Gegenzug zum angedrohten Mittelgambit.

Statt wie üblich ohne Nachdenken zu ziehen, zögerte Matana. Dann notierte er den Zug, setzte den Damenbauer auf d5 und griff mich an. Als hätte er gewusst, dass ich mich auf die »Skandinavische Verteidigung mit vertauschten Farben« vorbereitet hatte, spielte er nun selbst »skandinavisch« und hatte mich damit bereits nach dem ersten Zug in Verlegenheit gebracht.

Ich schlug seinen Bauern, doch statt zurückzuschlagen, nahm Matana den Verlust erst einmal hin und zog mit dem Springer auf f6.

Skandinavisch Center Counter, kommentierte er, notierte und lehnte sich zurück.

Ich mochte noch nicht verloren sein, aber ich musste improvisieren. Während Matana wie üblich aus seinem unerschöpflichen Vorrat an Eröffnungsvarianten schöpfte, war ich bereits ins Grübeln gekommen – ein ungleiches Spiel, als würde ich joggen, während er entspannt neben mir her radelte.

Erinnerst Du Dich noch an unser zweites Gespräch? fragte er.

Das war typisch! Ich hätte nicht sagen können, ob er die Frage ernst gemeint oder sie nur gestellt hatte, um mich abzulenken und noch weiter aus dem Konzept zu bringen.

Und ob ich mich erinnerte! Als ich zum zweiten Mal in Matanas Büro aufgekreuzt war, hatte ich vierzehn aufregende Tage hinter mir. Ich hatte meinen Körper entdeckt und verändert und meinte, auch andere würden mich nicht wiedererkennen. Matana jedoch würdigte mein neues Aussehen mit keinem Wort. Wie bei meinem Vorstellungsgespräch kam er ohne Umschweife zur Sache. Er fragte nach meiner ersten Veröffentlichung, einer Arbeit zur Spieltheorie.

IBM Deep BlueIch hatte einen Algorithmus entwickelt, der es ermöglichte, den Spielstand einer Schachpartie in eine eindeutige Ganzzahl zu codieren. Spielzüge ließen sich durch Bitmaskenoperationen abbilden, eine Art des Umgangs mit Zahlen, zu der ein menschliches Gehirn nicht in der Lage ist. Für einen Prozessor hingegen, der letztlich nur an- und abgeschaltete Bits kennt, war es der effizienteste Weg, von einem Spielstand zu einem anderen zu gelangen. Mit wenig Aufwand ließen sich so komplexe Situationen blitzschnell bewerten. Mit einer handelsüblichen Workstation hätten wir IBMs Deep Blue Konkurrenz machen können, einem Supercomputer mit 30 Prozessoren und 480 Spezialchips, dem es gelungen war, den amtierenden Schachweltmeister Garry Kasparow zu schlagen.

Ich war auf dem Holzweg. Matana wollte mich nicht engagieren, um ein prestigeträchtiges Spielzeug zu entwickeln. Er hatte nach dieser Arbeit gefragt, um mich langsam zum eigentlichen Fokus seiner Forschungsprojekte zu führen und mir zu erklären, warum er gerade meine Arbeiten bereits so lange mit Interesse verfolgte.

aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)

3 Reaktionen zu “Deep Blue”

  1. Phorkyas

    Also „Mittelgambit“, „Fianchetto“ das ist doch Musik in meinen Ohren – also gut, andere schien es ja wirklich abzuschrecken, aber ich fände es z.B. wirklich schön, wenn man die Partie während des Lesens mitspielen könnte (sie im Anhang anzugeben ginge natürlich auch, aber schade fände ich, wenn ausführlich von den auf dem Brett entfesselten Kämpfen die Rede ist und die Partie nicht zu nachzulesen wäre).

    Im Schach bin ich leider der Stümper geblieben, der ich immer war… (zwei Blogger wüsste ich wohl, die stärkere Spieler sein dürften: steppenhund und kwaku ananse – beide bei twoday)

    Womit ich mich wohl einmal befasst hatte, waren Schachprogramme, allerdings hat es mein eigenes nie über die Regeln hinausgebracht und das Buch, mit dem ich mich damit befasst habe ist auch anno 1995 (Dieter Steinwender, Frederic A. Friedel: Schach am PC – dort gibt es auch einen kleinen historischen Abriss; das reicht wohl weit zurück, die Faszination, das ein Apparat oder eine Maschine gegen den Menschen im Schach antritt, s. Schachtürke,.. aber das birgt vielleicht die Gefahr sich ins kulturtheoretische Abseits zu manövrieren, wobei die Kränkung, die wir uns beigebracht haben, indem wir eine Maschine bauten, die uns/ den Weltmeister in einem kulturell so angesehenen Spiel wie Schach besiegte, mir nicht so gering erscheint, bzw. nahe an dem ‚Zündstoff‘ der Neuro- und Kognitionswissenschaften).

    Was Sie mit „den Spielstand einer Schachpartie in eine eindeutige Ganzzahl zu codieren“ andeuteten, erschien mir zunächst, wie Hashtabellen (oder englisch auch ‚transposition table‘), aber nach ein bisschen googlen fand ich heraus, dass die stärkeren Programme (u.a. auch Rybka) heutzutage wohl bitboards benutzen, was Ihrer Beschreibung sehr nahe kommt (allerdings braucht man die 64bit, die den Schachfeldern entsprechen dann für alle 12 Figuren — zwar könnte man aus all diesen Bits auch wieder eine ganze Zahl machen, aber es ist wohl sinnvoller auf den Bits direkt zu operieren). Beides, Hashtabelle oder Bitboard, wären wohl aber eher technische Finessen, um die Programme schneller, stärker machen, nicht so etwas grundlegend Theoretisches wie es „eine[m] Algorithmus[], der es ermöglichte, den Spielstand einer Schachpartie in eine eindeutige Ganzzahl zu codieren“ wohl entspräche (vielleicht erscheint mir ‚Algorithmus‘ auch nur zu hoch gegriffen, denn z.B. nach dem obigen angedeuteten Verfahren, wäre es recht leicht, jeder Stellung eindeutig eine ganze Zahl zuzuordnen, aber damit wäre wohl nicht soviel gewonnen). Dies passt aber auch fast zu der Einschränkung, die der Erzähler selbst später macht: „eine Zahl [ein Bitmuster?]. Und Matana tat so, als hätte ich einem Blinden zum Sehen verholfen. Das fand ich absurd.“

    Aber da ist man schon in kleinsten Nuancen, die die meisten und vielleicht auch für Sie gar nicht mehr interessant sind.. und für die vielleicht kompetentere Leute sprechen sollten (ersterer Blogger, „steppenhund“ wäre wohl auch ein sehr fähiger Programmierer, aber ob er sich einmal mit Schachprogrammen beschäftigt hat, weiß ich nicht).

    (PS. „Matuna“ hat mit Maturana nichts zu tun, oder?)

  2. Benjamin Stein

    Die Software zu erklären, die Rosen da gebaut hat, war nicht mein Ziel. Ich wollte nur, dass es auch für Kundige einigermaßen plausibel ist, und das scheint der Fall zu sein. Tatsächlich habe ich 64-Bit-Bitmuster in Verbindung mit Hashtables mal für einen Checkers-Prototypen (Dame) eingesetzt, der eine Spiel-Engine auf neuronaler Basis hatte. War sehr spannend. Ich glaube nicht, dass ein 64-Bit-Unsigned tatsächlich ausreicht, um eine Schachsituation eindeutig abzubilden, aber das könnte ja genau die wissenschaftliche Leistung von Rosen gewesen sein.

    Ob Matana etwas mit Maturana zu tun hat? Naja, äußerlich nicht :-)

  3. Phorkyas

    Zunächst einmal: Ich finde es toll so „nerdigen“ Kram wie ein Schachspiel eingebaut zu sehen – das hat Ihnen ja auch meinen Kommentar eingehandelt(; Das Problem mit solchen Themen ist vielleicht eine Gabeldrohung folgender Art: Die Nerds oder Leute, die sich selbst für solche Themen interessieren würden gerne mehr Details lesen oder gehen sogleich auf die Jagd nach Fehlern. (So wurde mir als Physiker mit dem gleichen Vornamen „Mahlers Zeit“ geschenkt – das war allerdings etwas frustrierend, denn die Physik wurde immer so gestriffen, dass sich gerade kein Fehler ausmachen ließ. Zwar hatten manche Beschreibungen, meiner Meinung nach, etwas Schieflage, aber es war nie so, dass ich dies hätte festnageln können: so hier ist jetzt aber etwas wirklich falsch.) Aber auf der anderen Seite würden Details „Normal“leser vergraulen, wenn da tatsächlich die Innereien eines Schachprogrammes ausgebreitet würden.

    Für Sie entscheidend ist ja aber wohl, ob die Poetisierung oder Literarisierung gelingt. (Den „Nerd“ David Mahler z.B. fand ich nicht so gelungen, zu sehr Klischee.. letzlich keine Facetten)

    PS. Die 64-Bit braucht man natürlich für jede Figur, also 12 mal (s. z.B. »» hier – und weitere Information über Rochadestatus etc.) – Den Hinweis, dass eine Integerzahl zur Codierung dann aber nicht so hilfreich ist, möchte ich aber aufrecht erhalten. Einen Satz weiter sprechen Sie ja auch von Bitmaskenoperationen, die man direkt auf den Bits durchführen würde.. und nicht die 12×64-Bit in eine ganze Zahl/Integer umwandeln und darauf operieren (diese abzuspeichern wäre wohl etwas schwierig). Vielleicht verstehe aber auch nur ich die „ganze Zahl“ etwas mutwillig falsch/zu genau, aber für mich ist’s eben immer eine natürliche oder Integer-Zahl.. und das passt nicht ganz (..aber alles nur ein „epsilon“ – von mir aus ignorieren Sie´s,.. wie auch das folgende:)

    PPS. Beim Go entscheiden „Augen“ oft über Leben oder Tod, Luftlöcher die eine Gruppe von Steinen am Leben erhält, sofern sie mindestens zwei besitzt und diese „echt“ sind (ein unechtes Auge ist eines, dass durch Angriff zerstört werden kann und, so dass die Gruppe eventuell getötet werden kann)

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