mirror…mirror on the wall • © by eize@deviantart.com (2006-2011)
Mir war heiß. Bei allen deutlich spürbaren Anzeichen der Lust war es aber nicht einfach Begehren, das mich überkam angesichts der Szene vor uns. Es war vielmehr eine Welle tiefer Zuneigung zu der Nymphe, die mich hierhergebracht hatte. Das überraschte mich, als sähe unser Verhältnis ein solches Gefühl nicht vor, aber es kümmerte mich auch nicht. Ich schlang meine Arme um Katelyns Taille. Ich schloss die Augen, und wir umarmten einander so fest, als wollten wir uns gegenseitig ineinander verkriechen. Mit den Lippen strich ich über Katelyns Hals und tastete nach der Stelle, an der ich allein mit den Lippen ihren Puls fühlen konnte. Katelyn atmete ruhig und tief. In sachten Wellen drängte ihr Bauch meinem entgegen.
Das war kein Traum. Wir lebten. Wir waren tatsächlich hier.
Ein leiser Marimbaschlag schreckte uns auf. Wir lösten uns voneinander und sahen uns um. Die Staffelei war verschwunden, mitsamt dem Bild im Bild, der Nymphe und ihrem Pan, der aus ihm herausgestiegen war. Wir waren allein vor einem großen Spiegel und sahen uns selbst verloren im Halbdunkel stehen. Wie zwei Kinder, die sich im Wald verlaufen haben, hielten wir uns an den Händen und starrten auf den Vorhang, der sich hinter uns bewegt hatte, als wäre jemand eilig hindurchgeschlüpft.
Wieder erklang der Marimbaschlag, lauter als zuvor, und in meiner Hosentasche summte das Smartphone. Ich musste völlig abwesend gewesen sein, dass ich meinen Nachrichtenton nicht gleich beim ersten Mal erkannt hatte. Ich zog das Gerät aus der Tasche und las den Tickertext, der langsam übers Display lief: +++ Kaution und elektronische Fußfessel: Assange verlässt das Untersuchungsgefängnis als freier Mann. +++ Die Zählung der Unsichtbaren: Mit Iris-Scan und Fingerabdrucken will Indien über eine Milliarde Menschen registrieren. +++
Dann poppte eine Erinnerung auf: 20:30 Uhr – Soir Fix Matana (Mittelgambit). Da war es aus.
Assange ist frei, sagte ich.
Ach?
Katelyn ließ meine Hand los. Es war wohl nicht der passende Augenblick, um die Frage zu diskutieren, ob man jemanden, der eine elektronische Fußfessel trägt, als freien Mann bezeichnen kann. Aber wir mussten ohnehin gehen. Beinahe hätte ich vergessen, dass ich mit Matana verabredet war.
Soir Fix – so nannten wir die Abendstunden, für die wir uns einmal im Monat privat trafen, um Malt zu trinken und Schach zu spielen, eine Verabredung, die wir gegen jede Terminunbill und andere Hindernisse vehement verteidigten.
Ich muss los, sagte ich: In zwanzig Minuten steht Matana vor meiner Tür.
Katelyn hatte sich wieder gefangen. Sie lächelte sogar und drängte mich in Richtung des Spiegels, hinter dem sich, was sie offenbar auch zuvor schon gewusst hatte, der Ausgang befand.
Es wurde ein flüchtiger Abschied. Ich nahm ein Taxi, trieb den Fahrer zur Eile, und als der Wagen vor meinem Haus hielt, stand Matana schon am Tor und drückte gerade auf den Klingelknopf.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2011)