Aleph • © David Lawrence Singer
Initiiert – so kann man es wohl nennen – wurde ich während meines Bar-Mitzwa-Unterrichts. Meine Eltern hatten mit der Religion nichts am Hut, und so hatte ich von Religiösem so gut wie keine Ahnung. Gott und seine Gesetze waren mir gleichgültig. Bar Mitzwa aber musste sein, schon wegen der Party und der Geschenke. Mein Vater könnte zeigen, was wir hatten, eine große Show mit hunderten Gästen. Der Unterricht war nicht mehr als die Zugangsvoraussetzung dafür, das Eintrittsbillett zur Party und zum Geschenkesegen. Also musste ich einige Monate lang zweimal die Woche zur Religionsstunde gehen. Mein Lehrer war ein mürrischer Alter, der beim Reden spuckte und dessen Mundgeruch mir Übelkeit bereitete. Keine Ahnung, was mit seinen Innereien los war. Aus seinen Ohren wuchsen graue Büschel borstiger Haare, und ich konnte, wenn ich ihm gegenübersaß, nicht anders als sie anzustarren mit einem Gefühl zwischen Ekel und Faszination. Religion, dachte ich, stinkt also und sprießt einem stachlig aus den Ohren.
Schon nach den ersten zwei Besuchen ersehnte ich den Partytag umso mehr, weil er das Ende dieses Martyriums bedeuten würde. Ich käme aus der Gefahrenzone, müsste nicht mehr jeden Abend panisch im Spiegel meine Ohren untersuchen und im Beisein anderer nicht mehr wie zwanghaft meinen Mund geschlossen halten oder durch die Zähne murmeln aus Angst, der Religionsgeruch würde auch mir schon aus den Innereien aufsteigen.
Nein, ich war wirklich kein Fan dieser Unterweisung in Gottesdingen. Das änderte sich allerdings, als mein Lehrer mir eröffnete, dass die hebräischen Buchstaben, die ich lustlos unter Mühen unterscheiden und lesen gelernt hatte, auch Zahlenwerte besaßen, so dass ich also, wenn ich eines dieser hebräischen Bücher mit mindestens sieben Siegeln vor mir hatte, eigentlich auf gigantische Kolonnen von Ganzzahlen starrte. Die Buchstaben eines Wortes ließen sich addieren, und so konnte man verborgene Nachrichten aufspüren, indem man nach Worten suchte, die zwar ganz unterschiedliche Dinge bezeichnen mochten, durch die Übereinstimmung ihrer Zahlenwerte aber darauf hinzudeuten schienen, dass eine Verbindung bestand zwischen dem einen und dem anderen Wort, eine verborgene Verwandtschaft in der Bedeutung, die nur entdeckt werden musste und die – da war ich mir sicher – eine Botschaft transportierte.
Gematria, sagte mein Lehrer, hätten die Mystiker diese Kunst genannt, ganz sicher kein geeignetes Spiel für jugendliche Ahnungslose, wie ich einer war. Aber da er mit dieser Geheimwissenschaft endlich meine Neugier hatte wecken können, erzählte er mir mehr davon, und so ging ich fortan immerhin einige Male mit gespannter Freude zu unseren Treffen.
Alphabet • © David Lawrence Singer
Mein Lehrer besaß ein zerfleddertes Büchlein, in dem für die Zahlen von 1 bis 200 je ein Dutzend Worte aufgelistet waren, die den entsprechenden Zahlenwert besaßen. Das Büchlein lag eigens für mich parat, wenn ich kam. Wahrscheinlich war es ein Trick. Die hebräischen Wörter nämlich waren nicht übersetzt. Wenn ich Vergleiche anstellen wollte, musste ich die Vokabeln zunächst in einem dicken Wörterbuch suchen, das ebenso in Reichweite platziert war. So lernte ich freilich das Alphabet, und ich prägte mir auch eine Menge Vokabeln ein. Das erfüllte meinen Lehrer mit Zufriedenheit. Es war ihm scheinbar egal, aus welchem Antrieb heraus ich die Wörter lernte, solange ich es nur überhaupt tat.
Zunächst suchte ich die Vokabeln heraus, deren Buchstabenwerte sich zu Zahlen addierten, zu denen ich mich instinktiv hingezogen fühlte, ohne dass ich hätte sagen können, warum ich sie für besonders hielt: Die 11 und die 22 gehörten dazu, aber auch die 123, eine Zahl, die ich, auf einem Zettel notiert, immer in der Hosentasche trug. Auf 123 passten die Worte chanina und oneg – Gnade und Genuss; aber auch milchamah – Krieg – ergab diese Zahl. Die 11 stand für tov – gut – aber ebenso für oj, einen Klagelaut, der auch Insel bedeuten konnte. Das poetische Wort hagag, das den Klang des Herzschlags bezeichnet und gleichzeitig wispern bedeutet, ergab per Gematria ebenfalls 11. Und schließlich die 22: Güte und Segen, Freude und Verbundenheit, aber auch Dornbusch, Opfer und – zerstören.
Halbe Tage und Nächte konnte ich über die Beziehungen zwischen den Worten nachgrübeln. Sie mochten sich ergänzen, ihre Bedeutungen in einer lediglich nicht offensichtlichen Art korrespondieren. Womöglich wies der gleiche Zahlenwert bei Wortpaaren, die scheinbar ganz Gegensätzliches bezeichneten, darauf hin, dass ein Teil des einen auch immer in seinem Gegenteil zu finden, ja ohne sein Gegenteil womöglich gar nicht zu denken war. Überhaupt: Korrespondenz! Das war es doch, was ich mit Zeichen, Buchstaben und Zahlen und dem eifrigen Verfolgen der Sternen- und Planetenkonstellationen betrieb: eine Korrespondenz belauschen, den Austausch von Nachrichten, von Wissen. Ich hoffte, auf die eine oder andere Art eines Tages nicht mehr nur Lauschposten zu sein, sondern teilnehmen zu können an dieser Kommunikation der großen Geheimnisse, die etwas Magisches hatte. Wie ich das bewerkstelligen sollte, wusste ich freilich nicht. Ich wusste ja nicht einmal, wer da mit wem korrespondierte und mit wem ich also in Kontakt hätte treten wollen.
aus: »Replay«,
© Benjamin Stein (2010)
Tree of Life • © David Lawrence Singer
PS: Weitere faszinierende Kalligraphien und Grafiken von David Lawrence Singer sind in seinen Weblogs »» hier und »» hier zu finden.